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Die Sorgen des Sultans

Von Ronald Schönhuber

Politik

Präsident will Türkei zu Präsidialsystem umbauen. Kleine Kurdenpartei könnte das verhindern.


Ankara. Es war nur ein leises "Plopp". Doch dieses "Plopp", das bei einem Treffen von Karikaturisten zu hören war, als HDP-Chef Selahattin Demirtas eine Limonadeflasche öffnete, illustriert die politische Gemengelage in der Türkei derzeit fast genauso so gut wie die seitenlangen Einschätzungen der Politanalysten, die vor den Parlamentswahlen am Sonntag in großer Zahl kursieren.

Mit der feierlichen "Limonadeneröffnung" vor Publikum hat der 42-jährige kurdischstämmige Politiker Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan pointiert aufs Korn genommen. Dieser tourt schon seit Wochen ohne Unterlass durchs Land, um mit dem Koran in der Hand Provinzflughäfen, Pferdezuchtzentren oder Mineralwasserfabriken zu eröffnen. Stets begleitet von zahlreichen Fernsehkameras und tausenden, die rote Nationalflagge schwingenden Anhängern.

Dass es dem Mann, der die Türkei seit der Machtübernahme der AKP im Jahr 2002 maßgeblich geprägt hat, gar nicht um die Eröffnung der oft schon ein Jahr alten Einrichtungen geht, wird freilich klar, wenn er zum Mikrofon greift. Für Erdogan, der als Präsident laut Verfassung Äquidistanz zu allen Parteien halten müsste, stellt jede Eröffnung eine Möglichkeit dar, es mit der Überparteilichkeit nicht so genau zu nehmen: Der 61-Jährige, der von seinen Anhängern "der Meister" und von seinen Gegnern "der Sultan" genannt wird, wettert mit scharfen Worten gegen die Opposition und macht unverhohlen Stimmung für seine AKP.

Dass Erdogan nicht allein seinem Nachfolger an der Parteispitze die Mobilisierung der Wähler überlässt, hat freilich triftige Gründe. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu versucht zwar Erdogans Stil und Rhetorik auch für sich nutzbar zu machen, doch im Vergleich zu seinem Vorbild wirkt der eigentliche AKP-Spitzenkandidat doch blass. Und wenn Erdogan mit seinem großen Traum nicht scheitern will, kann es sich die AKP nicht leisten, irgendwo Stimmen liegen zu lassen. Denn wenn die Türken am Sonntag zu den Urnen gehen, wird nicht nur über die Zusammensetzung des Parlaments in Ankara entschieden, sondern auch über die zukünftige Ausgestaltung des politischen Systems. Erreicht die AKP zwei Drittel der 550 Mandate, kann sie aus eigener Kraft die Verfassung ändern und die Türkei nach Erdogans Vorstellungen zu einem Präsidialsystem umbauen. In einer solchen hätte das Staatsoberhaupt, das derzeit vor allem repräsentative Aufgaben erfüllt, dann bei so gut wie allen Entscheidungen das letzte Wort.

Kontrapunkt zur AKP

Möglich wäre eine grundlegende Neuausrichtung allerdings auch, wenn es im Parlament eine Drei-Fünftel-Mehrheit dafür gibt. Dann müsste die geplante Verfassungsänderung allerdings den Umweg über eine Volksabstimmung nehmen. Geht man nach den jüngsten Umfragen, ist es jedoch unwahrscheinlich, dass sich Erdogans Wünsche erfüllen werden. Möglicherweise könnte die AKP, die einen Großteil ihres bisherigen Erfolgs dem beeindruckenden wirtschaftlichen Aufschwung seit ihrer Machtübernahme verdankt, sogar die absolute Mehrheit verlieren. Denn jene, die sich in den strukturschwachen AKP-Hochburgen in den vergangenen Jahren mit Fleiß und Ausdauer ein bescheidenes Stückchen Wohlstand erarbeiten konnten, spüren derzeit sehr deutlich, dass der türkische Konjunkturmotor ins Stottern geraten ist.

Als Zünglein an der Waage könnte am Sonntag ausgerechnet Selahattin Demirtas HDP fungieren, die in vielen Bereichen den exakten Kontrapunkt zur religiös-konservativen AKP darstellt. Sollte es der pro-kurdischen Partei bei ihrem ersten Antreten gelingen, die Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament zu überspringen, ist es für die AKP so gut wie unmöglich, die notwendige Mehrheit für eine Verfassungsänderung zu erhalten. In den jüngsten Umfragen lag die HDP, deren ethnisch bunt gemischten Kandidaten aus den verschiedensten gesellschaftlichen Ecken kommen, einmal knapp über dieser Schwelle, einmal knapp darunter. "Die Strategie, landesweit anzutreten und weniger kurdisch, dafür mehr gesamttürkisch zu sein, hat sich bezahlt gemacht", sagt der Politanalyst Ekrem Eddy Güzeldere. "Die beiden Spitzenkandidaten sind sehr beliebt und bieten eine glaubhafte und jüngere Alternative zu den althergebrachten Parteien. Und der Wahlkampf der HDP war bisher humorvoller, weniger aggressiv und konzilianter." Abzulesen war das unter anderem auch am "Plopp" einer Limonadeflasche.