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"Manche Erinnerungen verblassen nie"

Von Michael Biach

Politik

Zijad Ibric flüchtete kurz vor der Erstürmung von Srebrenica. Heute arbeitet er als Entminer, um sein Land von der Last des Krieges zu befreien.


"Wiener Zeitung":20 Jahre ist Ihre Flucht aus Srebrenica her. Wie kam es damals zu der Entscheidung, zu fliehen?Zijad Ibric: Ich lebte 1995 seit knapp drei Jahren mit meiner Familie als Flüchtling in Srebrenica. In den Tagen vor dem 11. Juli wurde immer deutlicher, dass eine Erstürmung der Stadt durch die serbischen Truppen bevorsteht. Uns war klar, dass es sich nur um eine Frage der Zeit handelt. Viele Bewohner hofften auf den Schutz durch die stationierten UN-Soldaten, die meisten hatten jedoch weniger Zuversicht. Aber auch eine Flucht galt als beinahe unmöglich. Dennoch formierte sich gegen Mitternacht eine riesige Kolonne mit dem Ziel, das freie Tuzla zu erreichen. Ich wusste, wenn ich in Srebrenica bleibe, dann werden sie mich töten. Wenn ich flüchte, dann sterbe ich wahrscheinlich auch, aber es bleibt zumindest die Hoffnung.

Die Flüchtlingskolonne war mehrere Kilometer lang und bestand aus tausenden Personen. Wie war der Zug organisiert?

Die Vorhut übernahmen bosnische Soldaten und die kräftigsten Männer aus Srebrenica. Auch meine Brüder und ich gingen an der Spitze mit. Es gab nur wenige Waffen, denn diese mussten wir einige Jahre davor im Gegenzug für den UN-Schutz abgeben. Bis zum Morgengrauen kamen wir rasch voran und legten etliche Kilometer zurück, bis wir schließlich die serbischen Stellungen erreichten und offenes Gelände queren mussten. Von diesem Zeitpunkt an war es die Hölle. Unser Zug wurde immer wieder mit Granaten beschossen und kam nicht mehr voran. Viele starben oder wurden schwer verwundet. Auch fehlten uns die militärischen Mittel, um uns erfolgreich durchzukämpfen. Wir wurden in viele Gruppen zerstreut und verteilten uns im Wald. Hinzu kam, dass das Gelände vermint war, auch das forderte zahlreiche Opfer. Meine Brüder und ich formierten mit mehreren Dutzend Männern eine neue Gruppe. Wir versteckten uns im Wald und gingen erst in der Dämmerung weiter.

Jene Flüchtlinge, die überlebten, erreichten oft erst nach Wochen das freie Territorium nahe Tuzla. Wie kam Ihre Gruppe voran?

Wir hatten keine Waffen zur Verteidigung und kaum Lebensmittel. Manche von uns hatten nicht einmal Schuhe und trugen Plastiksäcke um die Füße. Nach Tagen unter Beschuss waren wir verzweifelt und paralysiert, wir redeten kaum mehr ein Wort miteinander und versuchten nur, zu überleben. Wir wussten, dass Srebrenica gefallen war und uns niemand zu Hilfe kommen würde und dass die einzige Möglichkeit darin besteht, weiter zu marschieren. Was sich aber tatsächlich abspielte, konnten wir nur erahnen. Weit entfernt hörten wir immer wieder deutliche Rufe, dass wir aus unseren Verstecken kommen können und in Sicherheit wären. Aber wir wussten, dass das eine Falle war. Das Schlimmste aber waren die Gewehrsalven aus der Entfernung. Dann wussten wir, dass die Serben jemanden entdeckt und getötet hatten.

Wurde aus Ihrer Gruppe jemand getötet?

Bereits am Anfang brachen immer wieder ausgemergelte Männer unter der Anstrengung zusammen, andere kehrten um oder ergaben sich. Später erfuhr ich, dass manche keinen anderen Ausweg mehr sahen, als sich selbst das Leben zu nehmen. Nachdem wir zwei Wochen lang unterwegs gewesen sind, verschwand auch mein kleiner Bruder Hasan. Eines Morgens war er einfach weg. Es gab keine Schüsse, keine Schreie. Ich weiß bis heute nicht, was passiert ist. Klar ist nur, dass er es nicht geschafft hat. Wenige Tage später erreichten wir das freie Territorium.

Wie konnten Sie die schrecklichen Ereignisse verarbeiten?

Die Jahre nach dem Krieg waren schwierig. Manche Erinnerungen verblassen nie, Ängste und Traumata begleiten einen ständig. So etwas kann man nicht einfach verarbeiten. Irgendwann traf ich die Entscheidung, etwas Sinnvolles mit dem Rest meines Lebens anzufangen. Ich wollte meinem Land helfen, sich von der Kriegslast zu befreien. Also ließ ich mich zum staatlichen Entminer ausbilden und arbeite seit 1998 für Norwegian People’s Aid.

Nach zwanzig Jahren hat Sie Ihre Arbeit nun wieder an die schrecklichen Orte Ihrer Flucht zurückgeführt.

In ganz Bosnien liegen noch über 100.000 Minen vergraben. Die Priorität der Entminung liegt auf den bewohnten Gebieten und auf landwirtschaftlichen Nutzflächen. Ich bin jedoch froh, dass wir nun Kapazitäten haben, um in den Wäldern rund um Srebrenica zu entminen und somit bewusst nach menschlichen Überresten jener suchen können, denen die Flucht damals nicht gelang. In den vergangenen Tagen haben wir Knochen von mindestens sechs verschiedenen Personen gefunden. Dazu kommen viele Kleidungsstücke und persönliche Gegenstände. Alle Knochen werden katalogisiert und an das ICMP (das Internationale Komitee für vermisste Personen, Anm.) zur DNA-Bestimmung übergeben. Es ist vielleicht nur ein schwacher Trost für die Hinterbliebenen, aber sie wissen dann zumindest wo ihre Verwandten gestorben sind. Ich hoffe auch, dass irgendwann mein toter Bruder gefunden wird. Dann hätte ich zumindest die Gewissheit, was aus Hasan geworden ist.

Im multiethnischen Bosnien sind auch zwei Jahrzehnte nach Kriegsende die Spannungen enorm. Wie sehen Sie die Zukunft Bosniens?

Wir müssen dieses Land gemeinsam gestalten und dürfen uns nicht auf den alten Feindbildern ausruhen. Um über Korruption und Misswirtschaft im Land hinwegzutäuschen, bedienen sich Politiker aus dem ganzen Land gern den üblichen Klischees. Bei Norwegian People’s Aid sind wir eine große Familie, viele meiner Kollegen sind Serben. Minen töten wahllos und unterscheiden nicht nach Ethnien. Wir arbeiten alle an demselben Ziel, nämlich dass unsere Kinder einmal in einem sicheren Land leben können. Ich wünsche mir, dass sich die Politik daran irgendwann ein Beispiel nehmen kann.