Zum Hauptinhalt springen

"Tragbare" Flüchtlingskosten, unrealistische Vorschläge

Von Alexander Dworzak

Politik

Deutsche "Wirtschaftsweise" stellen zentrale Reformen der Regierung infrage - Mindestlohn soll ausgehöhlt, Mietpreisbremse abgeschafft werden.


Berlin/Wien. 484 Seiten lang ist der Bericht der deutschen "Wirtschaftsweisen" für die Jahre 2015/16, der am Mittwoch in Berlin präsentiert wurde. Er trägt angesichts der Turbulenzen in der Eurozone und in der Flüchtlingsfrage den programmatischen Titel "Zukunftsfähigkeit in den Mittelpunkt". Bei deren Sicherung geht das fünfköpfige Beratergremium der Bundesregierung teils deutlich andere Wege als die schwarz-rote Koalition in Berlin.

Bestätigt fühlen kann sich Kanzlerin Angela Merkel zumindest in ihrer "Wir schaffen das"-Haltung bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise. Die "Wirtschaftsweisen" erwarten zwar direkte Ausgaben der öffentlichen Hand in Höhe von 5,9 bis 8,3 Milliarden Euro in diesem Jahr. 2016 soll die Summe bei 9,0 bis 14,3 Milliarden Euro liegen. Angesichts des ausgeglichenen Bundeshaushalts und der rückläufigen Schuldenquote seien die Kosten laut den Wirtschaftsforschern "tragbar". "Das kann Deutschland schultern", sagte der Vorsitzende der "Wirtschaftsweisen", Christoph Schmidt, am Mittwoch - allerdings mit einem wichtigen Zusatz: "noch".

Voraussetzung sei, dass die Flüchtlingszahl nicht wie bisher laufend steigt. Derzeit gehen die deutschen Behörden von einer Million Flüchtlinge 2015 aus. Sollten es noch deutlich mehr werden, wackelt das prognostizierte Wirtschaftswachstum von 1,7 Prozent heuer sowie 1,6 Prozent im kommenden Jahr.

Um "die Zukunftsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft durch geeignete Rahmenbedingungen zu gewährleisten", wie Schmidt sagt, empfehlen die Forscher, anerkannten Flüchtlingen auf dem Arbeitsmarkt denselben Status wie Langzeitarbeitslosen zu geben. Das bedeutet in der Praxis eine Ausnahme vom Mindestlohn über 8,50 Euro pro Stunde für ein halbes Jahr. Diese Ausnahme wollen die "Wirtschaftsweisen" auf ein Jahr ausdehnen. Der Mindestlohn war ein Zugeständnis von CDU/CSU an die SPD, die seit 2013 als Juniorpartner in der Regierung agiert. Der Tarif wird seit diesem Jahr angewendet, gilt jedoch erst ab 2017 für alle Branchen. Selbst wenn Kanzlerin Merkel die Empfehlung des Gremiums annehmen wollen würde, politisch ist sie gegenüber den Sozialdemokraten nicht durchsetzbar.

De Maizière muss zum Rapport

Das gilt auch für den Vorstoß der "Weisen", die erst heuer eingeführte Mietpreisbremse wieder zu streichen. Um sprunghafte Mieterhöhungen bei Neuvermietungen zu vermeiden, darf in bestimmten Vierteln deutscher Städte - in Berlin flächendeckend - die neue Miete nur noch zehn Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen. Die Forscher erhoffen sich vom Ende der Mietpreisbremse, dass mehr Privatkapital in den Wohnbau fließt. So rechnet die deutsche Wohnungswirtschaft mit 160.000 zusätzlichen Wohnungen, die für die dauerhaft bleibenden Syrer gebraucht werden. Insgesamt fehlen 800.000 Wohnungen in Deutschland.

Während bei Mindestlohn und Mietpreisbremse keine Änderungen zu erwarten sind, überrumpelte Innenminister Thomas de Maizière bereits im Oktober die Kanzlerin, Flüchtlingskoordinator Peter Altmaier und die SPD mit der Entscheidung, dass das Dublin-Verfahren wieder für Syrer gilt. Bekannt wurde das koalitionsintern erst diese Woche, wie eine Regierungssprecherin am Mittwoch eingestand. Im August setzte Deutschland die Regelung aus, wonach jener EU-Staat für das Verfahren zuständig ist, in dem ein Flüchtling erstmals registriert wird.

Um derartige Alleingänge zu vermeiden, muss de Maizière künftig einmal pro Bundestags-Sitzungswoche zum Rapport. Er wird dann besser kommunizieren, und die Zahl der Asylwerber weiter senken wollen. Sein Alleingang beim Dublin-Verfahren spiegelt die Unzufriedenheit in großen Teilen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit Merkels liberaler Flüchtlingspolitik wider. Heute ist kaum mehr vorstellbar, dass de Maizière über Jahre Merkel als Kanzleramtsminister diente.