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Abrakadabra - fort mit der Kinderarmut

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Großbritannien ändert das Gesetz zur Kinderarmut. Aus der neuen Definition von Bedürftigkeit purzeln fast zwei Drittel aller armen Kinder heraus.


London.Abrakadabra! Hier ist der beste Zaubertrick des alten Jahres. Auf Geheiß von Premierminister David Cameron löst sich im Vereinigten Königreich Kinderarmut über Nacht in Luft auf.

Nun - vielleicht nicht die Tatsache, dass Millionen britischer Kinder als arm gelten müssen und morgens Zehntausende hungrig zur Schule gehen. Zumindest aber verschwindet die vorwurfsvolle Statistik, die sich aus der bisherigen Zählweise ergeben hat. Und mit dieser werden eben auch die von ihr erfassten Kinder unsichtbar.

So wollen das der Tory-Premier und seine Minister natürlich nicht verstanden wissen, die jetzt die Zielvorgaben zur Bekämpfung von Kinderarmut auf der Insel abschaffen. Laut dem noch von Labour vor fünf Jahren durchgedrückten "Gesetz zur Kinderarmut" muss die Regierung regelmäßig die Zahl aller Kinder ermitteln, die in Familien leben, die über weniger als 60 Prozent des britischen Durchschnittseinkommens verfügen. Mit den 60 Prozent entsprach dieses Gesetz internationalen Vorstellungen von "relativer Armut". Es war eine Messlatte für die Art sozialer Benachteiligung, die von den Betroffenen als Armut empfunden wird.

Die Cameron-Regierung will diese Messlatte nun aber beseitigen. Sie will, um den Minderbemittelten "bessere Lebenschancen" zu verschaffen, sich nur noch an der Zahl der Haushalte orientieren, in denen kein Elternteil einen Job hat, in denen Kinder zum Zeitpunkt der mittleren Reife mit inakzeptablen Zeugnissen heimkommen, oder in denen es ernste Drogen- oder Alkoholprobleme gibt.

Nicht mehr länger, hat Sozialminister Iain Duncan Smith erklärt, dürfe die finanzielle Situation von Familien Gradmesser für Armut bleiben.

Für Regierungskritiker kommt diese Tilgung von Statistiken nicht zufällig. Die von Labour-Regierungen nach 1997 gesenkte Kinderarmuts-Rate ist, in der Folge der Austeritäts-Politik und der Ummodelung des Wohlfahrtsstaats unter Cameron seit 2010, wieder kräftig am Steigen.

Der Organisation "Save The Children" zufolge könnten statt der gegenwärtig 3,7 Millionen als arm klassifizierten Kinder im Jahr 2020 rund fünf Millionen "zu einem Leben in Armut verdammt" sein - und das in einem Land, das Schatzkanzler George Osborne "zum reichsten Land der Welt" machen will.

Angesichts derart wachsender sozialer Gegensätze, meinen die Kinderschutzverbände der Insel, habe das bisherige Gesetz zumindest Entwicklungen illustriert und zu politischer Aktion gemahnt. Beim neuen Gesetz dagegen purzeln schon mal fast zwei Drittel aller Kinder aus der Armutsdefinition heraus, weil wenigstens ein Elternteil einer Arbeit nachgeht - auch wenn das vielen Familien trotzdem zum Leben nicht reicht.

Bei Duncan Smiths neuem Gesetz, klagt die nationale "Aktionsgruppe gegen Kinderarmut", gehe es "gar nicht um neue Bemühungen zur Beendigung von Kinderarmut, sondern nur darum, die misslungene Politik zu begraben und zu verbergen". Im Grunde, formulieren es Oppositions-Politiker, sei die Abschaffung der alten Zählung und Zielvorgabe "die Todesanzeige" für das, was Cameron einmal als "Compassionate Conservatism", als mitfühlenden Konservatismus, bezeichnete.

Als Cameron vor zehn Jahren, die Parteiführung übernahm, hatte er noch erklärt: Natürlich gebe es "relative Armut". "Selbst wenn man nicht am Bettelstab geht, empfindet man sich als arm, wenn man sich nichts von dem leisten kann, was die jeweilige Gesellschaft als wesentlich betrachtet." Wer behaupte, Armut sei nicht relativ, liege "grundfalsch".

Mittlerweile suchen die Gegner des Gesetzes in einem letzten Anlauf, Cameron an jenes Bekenntnis zu erinnern. Während die Gesetzesvorlage dieser Tage durch die Ausschüsse des Oberhauses geht, appellieren Eltern, Kinderärzte, Sozialarbeiter, Lehrer und andere Verbände an die Nobilität im Land. Die Tory-Mehrheit im Unterhaus hat dem Gesetz ihren Segen gegeben. Die Lords und Ladies Westminsters sind die Einzigen, die es noch blockieren können.