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Was ist los in Europas Osten?

Von Michael Schmölzer

Politik

Seit Ausbruch der Flüchtlingskrise gehen die osteuropäischen EU-Mitgliedsländer auf Distanz zu Brüssel.


Wien. Die Idee einer gemeinsamen europäischen Zukunft ist nicht en vogue in Osteuropa. Es war ein Schockerlebnis für alle, die noch Illusionen hatten, als es um die Aufteilung der Flüchtlinge auf die EU-Staaten ging. Erstmals waren die EU-Innenminister im September gezwungen, einen Beschluss gegen den ausdrücklichen Widerstand aus Prag, Bratislava, Budapest und Bukarest durchzusetzen. Polen hatte in letzter Sekunde eingelenkt, doch die neue national-konservative PiS-Regierung hat das Rad wieder zurückgedreht. Die Slowakei und Ungarn haben mittlerweile Klage gegen einen Verteilungsschlüssel beim Europäischen Gerichtshof EuGH eingereicht.

Neue Christen braucht das Land

Es geht ein Riss durch Europa - so scheint es jedenfalls. Vorreiter einer aus Brüsseler Sicht unseligen Entwicklung war Ungarn, das unter Viktor Orbán schon lange dem Chauvinismus frönt, die heilige Stephanskrone höher schätzt als die EU-Fahne. Andere Staaten folgten dem Vorbild: Die neue polnische Premierministerin Beata Szydlo hat gleichsam als erste Handlung die EU-Fahne aus ihrem Amtssitz verbannt. Flüchtlinge will man hier nicht, auch nicht die EU, die man widerwillig in Kauf nimmt. "Nein" heißt es deshalb auch zu einer aus Brüssel gelenkten Überwachung der polnischen EU-Außengrenze. "Das bedeutet, dass dies eine undemokratische Struktur wäre, die nicht von den Mitgliedsstaaten kontrolliert wird und wer weiß wem untersteht", so der als Hardliner bekannte polnische Außenminister Witold Waszczykowski. Die Verpflichtung, Flüchtlinge aufzunehmen, will man in Warschau jetzt in jedem Fall "umformulieren", wie der für Einwanderung zuständige Vize-Innenminister Jakub Skiba bekannt gab. Er schließt nicht aus, dass sich Polen als dritter einer Klage vor dem EuGH anschließt.

Wenn es darum geht, Brüsseler Vorgaben zu konterkarieren, werden selbst ehemalige Komsomolzen fromm: Der slowakische Premier Robert Fico, einst in der KP-Jugend gut aufgehobener Sozialdemokrat, heißt ausschließlich christliche Flüchtlinge - und auch nur dann, wenn sie als Familien kommen - in seiner Heimat willkommen. Und kündigt an, dass alle Muslime auf slowakischem Boden kontrolliert werden.

Eine Aktion, die beim Osteuropa-Kenner und ehemaligen österreichischen Vizekanzler Erhard Busek auf Häme stößt: "Wenn ich Robert Fico nach den zehn Geboten frage, weiß ich nicht, ober er sie aufsagen kann", meinte er zuletzt bei einer Europa-Diskussionsveranstaltung im Wiener WUK.

Milo Zeman, tschechischer Präsident, hält mit seiner Meinung ebenfalls nicht hinterm Berg. Es wäre "naiv", keinen Zusammenhang zwischen Flüchtlingen und Terrorismus herzustellen, so der Polit-Veteran. Zeman ist für provokante Äußerungen bekannt, hatte er doch vor einigen Jahren die Sudetendeutschen als "fünfte Kolonne Hitlers" bezeichnet und in Österreich und Deutschland für Empörung gesorgt. Unvergessen ist auch Zemans Vorgänger im Amt, Vaclav Klaus, der die EU-Fahne vom Hradschin abmontieren ließ und die EU mit der Sowjetunion verglich.

Was also ist los im Osten der Union? Warum diese kollektive Hinwendung zur Nation, warum diese Xenophobie und warum diese Ablehnung eines gemeinsamen, solidarischen Europas? Othmar Karas, Delegationsleiter der ÖVP im EU-Parlament und ehemaliger Vizepräsident dieser Institution, sieht die Gründe dafür auch in der Historie: Viele osteuropäische Länder hätten geschichtliche Erfahrungen noch nicht aufgearbeitet. Er verweist auf die Vertreibung der Sudetendeutschen, die Aussiedelungspolitik in Polen nach 1945 oder die Diskriminierung der Roma-Minderheit in Ländern wie Ungarn oder der Slowakei. Das alles komme jetzt in der Flüchtlingsfrage wieder an die Oberfläche (siehe Interview unten).

Philipp Ther, Vorstand des Instituts für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien, hält derartige historische Rückgriffe im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" für "irreführend". "Gerade in Österreich wäre ich da vorsichtig, sonst könnte man ja rückschließen, dass die nationalsozialistische Vergangenheit direkten Einfluss auf die FPÖ und vielleicht auch andere Teile des politischen Spektrums hat", meint Ther, der zuletzt mit dem Buch "Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent" an die Öffentlichkeit getreten ist. Allerdings seien die osteuropäischen Länder infolge des Zweiten Weltkriegs, des Holocaust und der Grenz- und Bevölkerungsverschiebungen nach 1945 "ethnisch homogenisiert", weiß Ther. Das halte einer strengeren Überprüfung aber auch nicht stand, in Tschechien lebten und arbeiteten mehrere 100.000 Ukrainer legal als Gastarbeiter. In Polen gebe es noch mehr Ukrainer, so Ther. "Im Übrigen gibt es hier auch viele Tataren, und Tschetschenen, also es wurden schon in der Vergangenheit Muslime aufgenommen."

"Populistische Abwehr"

Man dürfe angesichts der jüngsten Entwicklungen nicht vergessen, dass Nation und damit Nationalstolz in Osteuropa einen höheren Stellenwert habe als in Westeuropa, betont Ther: "Diese Länder haben erst 1989, manche später, ihre volle nationale Souveränität zurückbekommen." Etliche Staaten, wie etwa Polen unter der PiS, würden die Idee eines Europas der Vaterländer vertreten, wie sie eigentlich seit dem Vertrag von Maastricht und der Gründung der EU abgeschafft wurde.

Ther plädiert dafür, die Angelegenheit differenziert zu betrachten: So würde er im Fall Polens "nicht von der Haltung der Regierung auf die Haltung der gesamten Gesellschaft schließen". Es gebe auch nach dem Wahlsieg der PiS "wichtige gesellschaftliche Gruppen, die für eine europäische Solidarität in der Flüchtlingsfrage eintreten". Konkret seien linksliberale Kreise um die Zeitung "Gazeta Wyborcza", aber auch kirchliche Kreise der Ansicht, dass man "20.000 bis 30.000 Flüchtlinge aufnehmen könnte".

Den Hauptgrund für die Ablehnung von Flüchtlingen in Osteuropa sieht Ther in einer "populistischen Abwehrreaktion, mit der man in der Bevölkerung vorhandene Ängste zu politischen Zwecken ausnutzt". In der Regel sei das eine populistische Konkurrenz-Situation, so Ther. Wichtig sei auch, dass "diese Gesellschaften den Umgang mit muslimischen Minderheiten nicht gewohnt sind, es gibt dort keine größere türkische oder türkisch-stämmige oder bosniakische Community, wie hier in Wien". Da man den Kontakt nicht gewohnt sei, gebe es sehr verbreitete Ängste, "die natürlich durch die Attentate von Paris noch einmal verstärkt wurden".

Bei den Syrern, Afghanen und Irakern, um die es jetzt gehe, "gibt es offensichtlich Angst und Fremdheitsgefühle, weil die als ferne Fremde" wahrgenommen werden, weiß Ther, den die Ablehnungs-Front dann aber doch selbst überrascht hat: "Ich hätte gedacht, dass die Erinnerung an die eigene Emigration noch lebendiger da ist. Nach 1968 hätten immerhin "mehr als 200.000 Tschechoslowaken", nach der Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981 "mehr als 200.000 Polen im Westen Zuflucht gefunden". Doch meist seien diese Flüchtlinge im Ausland geblieben. "Das heißt, es fehlen die Erfahrungen, die diese Gesellschaften für sich gemacht haben", erklärt Ther die "etwas befremdliche Geschichtsvergessenheit". Ther sagt, dass er die Entscheidung Merkels, die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen, für richtig hält. Er habe aber auch Verständnis für die sogenannten Visegrad-Staaten, also Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn: Diese würden beklagen, dass der deutsche Vorstoß "ohne Konsultationen" gefallen sei. "An diesem Vorwurf ist etwas dran", sagt Ther, "man hätte diese Entscheidung mit den europäischen Partner koordinieren sollen. Trotzdem halte er die Forderung nach Solidarität für berechtigt." "Da wird mit dem Finger auf Frau Merkel gezeigt, das finde ich falsch und unwürdig." Von einer neuen Ost-West-Spaltung will Ther nicht sprechen. Es gebe überall in Europa "Länder, die Flüchtlinge aufnehmen und solche, die versuchen, sich dagegen zu wehren", so Ther. Dazu kommt, dass der Osten viel ärmer als Westeuropa ist. "Zu einem Zeitpunkt, wo diese Länder mit sich selber nicht sehr solidarisch sind, einen gering ausgebauten Sozialstaat haben, tun sie sich mit der Solidarität gegenüber Dritten schwer." Und: "Der Mangel an Solidarität ist in vieler Hinsicht durch die neoliberale Transformation entstanden."