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Eine Herkulesaufgabe

Von WZ-Korrespondent Ferry Batzoglou

Politik
Flüchtlinge bei der Registrierung auf Lesbos.
© reu/A.Konstantinidis

Von wegen Durchwinken: Griechenland, über dessen Schengen-Status diskutiert wird, hat keine andere Wahl, als die Flüchtlinge zu versorgen.


Athen. "Phobien", diagnostiziert Jannis Mouzalas, seit September griechischer Minister für Migrationspolitik in der Athener Links-Rechts-Regierung, einigen europäischen Staaten in Sachen Flüchtlingskrise. Und sie scheinen ansteckend zu sein. Jene Länder, die "nationale Lösungen" befürworten, "werden langsam die Mehrheit in der EU". Namen nannte Mouzalas zwar nicht. Dafür bereitete er seine Landsleute auf schwierige Zeiten vor: "Wir müssen uns auf eine große Zahl von Menschen vorbereiten, die fortan bei uns bleiben werden." Auf wie viele? "Zehntausende."

Einer, dem die Griechen schon den unrühmlichen Titel "Stier im Porzellanladen des Balkans" verpasst haben, ist ein erst 29-jähriger Österreicher. Sein Name: Sebastian Kurz, Außenminister. Er hat Mazedonien kürzlich einen Besuch abgestattet.

Wien sei bereit, Skopje "Ausrüstung, aber auch Personal wie Polizei, eventuell sogar Militär, zur Verfügung zu stellen, um den Balkanstaat bestmöglich dabei zu unterstützen, den Zustrom von Flüchtlingen aus dem Nachbarland Hellas zu reduzieren oder eventuell sogar zu stoppen, wenn die Aufnahmekapazitäten in Österreich, aber auch in anderen mitteleuropäischen Staaten erschöpft" seien, drohte Kurz.

Nur: Träte dieser Fall ein, dann wäre Hellas, der seit dem Frühjahr 2010 faktisch bankrotte EU-Außenposten, der nur mit Krediten seiner öffentlichen Geldgeber über Wasser gehalten wird, wohl nicht mehr nur ein Transitland für den nicht abebbenden Flüchtlingsstrom aus Syrien, dem Irak, Afghanistan oder anderswo in Richtung Mittel- und Nordeuropa. Das bisher übliche "Durchwinken", wie Hellas’ Kritiker spotten, sei dann schlagartig Geschichte.

Auf Druck der EU werden fünf "Hotspots" errichtet, Registrierungszentren für Migranten, die auf der Hauptroute vom türkischen Festland die griechischen Inseln in der Öst-Ägäis erreichen. Deren anvisierte Kapazität: rund 12.500 Plätze.

Der größte Hotspot im Ort Moria im Norden von Lesbos ist schon fertig. Chios wurde am Sonntag fertig. Samos und Leros sind fast abgeschlossen, nur der Hotspot auf Kos ist im Verzug.

Der Grund: massive Bürgerproteste. Die Protestler fürchten einen Einbruch des Tourismus, im Gegensatz zu anderen Inseln die praktisch einzige Einnahmequelle auf Kos. Der Stadtrat beschloss die Durchführung eines Referendums über den Hotspot.

In den Hotspots sollen die Flüchtlinge und Migranten höchstens 72 Stunden bleiben, verspricht die Athener Regierung. Dann geht es weiter aufs Festland. Dort laufen die Arbeiten zum Aus- und Neubau von insgesamt sieben "Vorabreise-Zentren" ("Proanachorisiaka Kentra"), wie sie im Behördengriechisch etwas holprig heißen, auf Hochtouren - trotz teilweiser Bürgerproteste. Geplante Aufnahmekapazität: insgesamt 17.628 Menschen.

Dank dem Einsatz des Militärs rund um die Uhr ist mit einer baldigen Fertigstellung zu rechnen. In Idomeni, dem Nadelöhr nach Norden auf der sogenannten Balkanroute, wird das bestehende Aufnahmelager von jetzt 1600 auf künftig 2800 Plätze aufgestockt.

Ferner werden die Kapazitäten in den neuen Vorabreise-Zentren in Schisto bei Athen und Sindos bei Thessaloniki von anfangs zusammen 3000 auf stufenweise insgesamt 8000 Plätze gesteigert. Die übrigen knapp 7000 Plätze verteilen sich auf bestehende Vorabreise-Zentren in Athen, Korinth und dem Ort Paranesti an der Grenze zu Bulgarien.

Griechenland muss 30.000 Flüchtlinge unterbringen

Damit käme Hellas seiner Verpflichtung nach, insgesamt rund 30.000 Flüchtlinge unterzubringen. In besagten Vorabreise-Zentren sollen Menschen bleiben, die zuvor alle Stadien der Registrierung durchlaufen haben, um entweder in andere EU-Länder weiterzureisen oder abgeschoben zu werden.

In Griechenland mit seiner exorbitant hohen Arbeitslosigkeit, in dem überdies keine Grundsicherung existiert, will fast keiner der Flüchtlinge bleiben. Aber die Verteilung der Menschen auf den Rest der EU läuft extrem schleppend: Statt der 160.000 Migranten aus Hellas und Italien, wie im vorigen Herbst vereinbart, sind bisher erst rund 400 Flüchtlinge aus Griechenland auf andere EU-Länder verteilt worden. Die Abschiebung gestaltet sich ferner nicht nur hierzulande schwierig.

Dabei kamen seit Jahresbeginn bereits 75.000 Migranten nach Griechenland - ein Vielfaches im Vergleich zum entsprechenden Vorjahreszeitraum. Im Rekordjahr 2015 erreichten rund 850.000 Flüchtlinge Hellas.

Der Vorwurf Richtung Athen, wonach es seine Seegrenze zur Türkei nicht sichere, weisen die Griechen kategorisch zurück. Zu Recht. Auf dem Meer Flüchtlingsboote zu stoppen oder gar zurückzudrängen, im Fachjargon "Push back" genannt, ist international strikt verboten.

"Sollen wir die Flüchtlinge erschießen oder ertrinken lassen?", fragt Mouzalas demonstrativ rhetorisch. Die Rettung der Menschen sei nicht nur juristisch eine Pflicht, sondern schlicht ein Gebot der Menschlichkeit.

Doch es ist eine zusätzliche Herkulesaufgabe für das Euro-Sorgenkind. Erste Schätzungen der Kosten von 600 Millionen Euro allein für dieses Jahr für Seenotrettung, Transport der Flüchtlinge aufs Festland, Asyl- und Verlegungsprozess, Rückführungen und vor allem für die Errichtung und den Betrieb der Hotspots gelten als überholt.

Eine Milliarde Euro Finanzbedarf bei Management

Der Geldbedarf betrage laut Mouzalas mehr als eine Milliarde Euro - allein für 2016. Dies entspricht 0,6 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. "Das Geld, das wir von der EU bis dato genehmigt haben, reicht nur dafür, die Hotspots sechs, sieben Monate zu betreiben."

Die EU stellt Athen bisher nur knapp 510 Millionen Euro für das Flüchtlings-Management bereit - und dies bis 2020. Athen braucht jedoch sofort mehr Geld, auch darüber wird am EU-Gipfel geredet werden müssen.

Aber vielleicht versiegt auch der Flüchtlingsstrom nach Lesbos, Chios und Samos bald. Dafür könnte der gerade beschlossene Nato-Einsatz an der griechisch-türkischen Seegrenze sorgen. Der Plan: 57 Nato-Schiffe sollen die Flüchtlingsboote mit einer lückenlosen Aufklärung bestenfalls schon vor dem Abfahren von der türkischen Küste oder spätestens in türkischen Gewässern orten.

Die türkische Küstenwache soll dann die Flüchtlinge umgehend zurück aufs türkische Festland zu transportieren, bevor sie griechische Gewässer, geschweige denn hellenische Inseln (und damit die EU), erreichen. Wer dennoch griechisches Terrain erreicht, der soll sofort in die Türkei zurückkehren.

In der Tat: Seit Beginn des Nato-Einsatzes zu Beginn dieser Woche sind schlagartig kaum noch Flüchtlinge auf den Inseln angekommen - trotz guten Wetters.