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Die Insel wackelt

Von WZ-Korrepondent Peter Nonnenmacher

Politik

Die Iren wählen neues Parlament. Enda Kenny droht Mehrheit zu verlieren - trotz stärksten Wirtschaftswachstums Europas.


Dublin. Die Hauptstraße von Swords, die vom alten Schloss hinaufführt zur mächtigen Festung des Einkaufszentrums, ist vollbehängt mit bunten Wahlplakaten. Auch hier, im Norden Dublins, drängen sich dicht an dicht Kandidaten, Parteien, Parolen aller Art. Am Freitag wird das Dáil, das irische Parlament, neu gewählt. Und viele Iren wissen nicht recht, wem sie bei diesem reichen Angebot ihre Stimme geben sollen.

Munter nimmt sich Swords aus, zwischen Taylor’s Bar und den diversen Schönheits- und Gesundheitssalons auf der Main Street. In Butlers Chocolate Café ist jeder Tisch besetzt. An einem von ihnen sitzen John und Sheila. Die Geschäfte liefen besser als noch vor ein wenigen Jahren, sagen sie. "Aber viele Leute aus der Umgebung gehen, wenn sie hierher kommen, noch immer zu Supervalue oder in die anderen Billigläden", meint Sheila. John, der außerhalb von Swords in der Landwirtschaft arbeitet, verweist auf das ungewöhnliche soziale Gemisch im Wahlkreis Fingal. "In den bürgerlichen und in manchen bäuerlichen Gebieten geht es langsam aufwärts. In Fingals ärmeren Bezirken aber leiden viele unter den scharfen Einschnitten der letzten Jahre. Da gibt es viele Probleme. Und jede Menge Zweifel am Kurs der Regierung."

Größtes Wachstum in EU

Mit seinen ausufernden Siedlungen, seinem schnellen Wachstum und der jüngsten Bevölkerung im Land spiegelt dieser Stadtteil im Norden Dublins recht getreu die Stimmung der ganzen Nation wider. Von den fünf Parlamentssitzen, die im Wahlkreis Fingal vergeben werden, kann sich die seit 2011 regierende Koalition aus der konservativen Fine Gael und der sozialdemokratischen Labour höchstens zwei - je einen - versprechen. Die kleine Labour Party muss sogar froh sein, wenn sie ihren Sitz überhaupt halten kann, landesweit droht ihr ein Wahl-Desaster. Das ist auch Fingals Labour-Abgeordnetem Brendan Ryan bewusst. "Die letzten fünf Jahre waren schwierig für uns", erklärte er jüngst seinen Mitbürgern. "Vor allem, weil wir nach der großen Wirtschafts-Karambolage erst einmal aufräumen mussten. In den ersten drei bis vier Jahren mussten wir Dienstleistungen abbauen und Steuern herauf setzen." Das haben Labour-Wähler nur schwer geschluckt.

Etwas zuversichtlicher gibt sich James Reilly, der örtliche Repräsentant des größeren Koalitionspartners Fine Gael, der von einem "klaren Aufschwung" spricht, auf "den schon erzielten Fortschritt bauen" will und an seine Wähler appelliert, "den Gesundungsprozess um Himmels willen am Laufen zu halten". "Keep the Recovery Going" ist auch der zentrale Wahlslogan Fine Gaels, der irischen Rechtsliberalen. Mit dieser Losung hofft Taoiseach (Premier) Enda Kenny erstmals in der Geschichte Irlands einen zweiten Wahlsieg für seine Partei zu erringen - und gleichzeitig der Welt zu beweisen, dass drastische Sparpolitik nicht, wie anderswo, automatisch zu einem Regierungswechsel führen muss. "Vor fünf Jahren noch", meint Kenny, "stand Irland am Rande des Ruins. Irlands internationaler Ruf war vollkommen zerstört. Heute, fünf Jahre später, gibt es noch immer Probleme. Aber unsere Finanzen sind wieder ausgeglichen, unsere Wirtschaft wächst wieder, und zwar schneller als in jedem anderen Land Europas. Und einen Rettungsschirm brauchen wir auch nicht mehr."

Dieser "Rettungsschirm", und das, was ihm voraus gegangen war, hatten Kenny 2011 ins Amt segeln lassen. Die konservative, in Irland über Jahrzehnte dominante Partei Fianna Fáil hatte den "Keltischen Tiger" abgewürgt und das Land in die schlimmste Krise seit seiner Gründung gestürzt. Bauspekulanten und verantwortungslose Banker, eng verzahnt mit Fianna Fail, hatten den Crash verursacht, der Irland als erstes Land unter den Rettungsschirm der Troika zwang. Bei den Wahlen von 2011 brach die populistische Traditionspartei Fianna Fáil dann komplett in sich zusammen. Fine Gael und Labour übernahmen die Führung und erboten sich, die Finanzen mit drastischen Eingriffen zu "sanieren". Wie viel von der Erholung der irischen Wirtschaft nun dem Austeritätskurs Kennys zu verdanken ist und wieviel günstigen Umständen oder grosszügigen Steuerregelungen für multinationale Konzerne, darüber wird in Irland bitter gestritten.

Sicher ist, dass die irische Wirtschaft mit 4,5 Prozent geschätztem Wachstum für 2016 den Rest Europas in den Schatten stellt. 2015 kam Irland sogar auf knapp sieben Prozent, die Arbeitslosigkeit sank vom zweistelligen Bereich auf neun Prozent. Die Europäische Kommission hält Irlands Ökonomie für "robust" - so lange Exporte und Investitionen nicht beeinträchtigt werden.

Aus dem Rettungsschirm sind die Iren schon vor zwei Jahren hervorgetreten. Das hält sich vor allem Kenny zugute. Er sieht sich als Musterknabe der EU, der nun sogar ein paar Zuckerstücke in Form steuerlicher Erleichterungen verteilen kann, um seinen Landsleuten die Qual dieser Wahl zu versüßen. Allerdings finden sich viele Iren, vor allem im unteren Bereich der Einkommenskala, so mitgenommen von den drastischen Abgaben- und Steuererhöhungen, den Rentenkürzungen, den Einschnitten in Sozialfürsorge und Gesundheitswesen, dass solche Zuckerstücke den bitteren Geschmack nicht wettmachen, der weithin zur Forderung nach einem Alternativ-Rezept zur bisherigen Medizin geführt hat.

"Merkwürdige" Wahl

Fianna Fáil, so viel ist klar, hofft darauf, dass wenigstens ein Teil der alten Wählerschaft zur Partei des Establishments zurückkehrt - und ihr die Sünden der Vergangenheit vergibt. Hier, im Nord-Dubliner Wahlkreis Fingal, dürfte die Partei den dritten der fünf verfügbaren Sitze ergattern. Der vierte und fünfte Sitz aber sind das eigentlich Interessante. Auf den entsprechenden 40-Prozent-Stimmenanteil im Wahlkreis - wie im ganzen Land - erheben nämlich die Republikanerpartei Sinn Féin und ein buntes Sammelsurium von Klein- und Protesparteien sowie unabhängige Kandidaten Anspruch.

Sinn Féin, früher der politische Arm der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) bietet sich seit einigen Jahren als linksnationale Plattform, als Protestpartei vor allem für die Arbeiterbezirke Dublins an. Die Republikaner haben allerdings noch immer Schwierigkeiten, sich von den Schatten ihrer Vergangenheit zu lösen.

Fingals Sinn-Féin-Kandidatin Louise O’Reilly zum Beispiel, eine respektable Gewerkschafts-Funktionärin, konnte sich unlängst in einem Interview nicht überwinden, die Ermordung eines Polizisten durch einen republikanischen Schützen zu verurteilen. "So einfach ist das alles nicht", erwiderte sie auf eine entsprechende Frage - nur, um wenige Stunden später per Twitter eilends eine Entschuldigung nachzuschieben.

Kein Problem dieser Art haben die Unabhängigen, die Anti-Austeritäts-Aktivisten und die überwiegend progressiven Mini-Parteien, die bei den letzten Kommunalwahlen in Fingal bereits ein Drittel aller Sitze holten - und die bei der Wahl am Freitag auf mindestens 25 Prozent kommen dürften.

Sicher scheint, dass das politische Gefüge Irlands sich weiter fragmentiert - und dass Enda Kennys Koalition wohl kaum mehr über eine Mehrheit an Parlamentssitzen verfügen wird, wenn am Samstag die Stimmen gezählt werden. Theoretisch könnten sich natürlich die beiden Rechtsparteien, Fine Gael und Fianna Fáil, zusammen spannen. Aber dagegen gibt es beharrliche Widerstände, die historische Gründe haben. Mit Sinn Féin wiederum will, wegen der IRA-Assoziation, niemand gern koalieren. So bliebe nur ein erneutes, wenn auch geschwächtes Bündnis Fine Gaels mit Labour, gestützt auf eine willige Gruppe von Kleinparteien und Unabhängigen.

Für Sheila und John in Butlers Chocolate Café in Swords ist es eine "merkwürdige" Wahl, die in "ziemlichem Chaos" enden dürfte. John wird "wahrscheinlich" Fine Gael unterstützen. Ihm leuchtet das Sanierungsgebot Enda Kennys ein. Sheila hält es mit den Anti-Austeritäts-Rebellen: "Wir brauchen ein paar starke Stimmen, die sich von dem Austeritäts-Unfug nicht einschüchtern lassen."