Zum Hauptinhalt springen

Singapur an der Themse

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Am Donnerstag wird in London ein neuer Bürgermeister gewählt. In den Umfragen liegt Labour-Kandidat Sadiq Khan voran.


London. Nun gut, noch gibt es keine Befreiungsbewegung. Nicht einmal, wie in Schottland, eine nach Unabhängigkeit dürstende Nationalpartei. Aber das heißt nicht, dass London nie die Idee gekommen wäre, seiner eigenen Wege zu gehen. Und dass es von Zeit zu Zeit nicht leid ist, Hauptstadt Großbritanniens zu sein.

Umfragen des Meinungsforschungsinstituts "Censuswide" zufolge findet jeder fünfte Londoner, dass die britische Metropole als souveräner Staat, als eigenständige nationale Einheit, im Grunde "besser dran" wäre. Unter den 25- bis 35-Jährigen an der Themse soll es sogar fast die Hälfte sein, die das glaubt.

Über die Jahre hin haben ja auch einflussreiche Londoner wie der heutige Nachrichtenchef der BBC, James Harding, der "coolen, rassigen, kosmopolitischen" Weltstadt zwinkernd geraten, sie solle sich "doch einfach abspalten vom Vereinigten Königreich". Londons erster direkt gewählter Bürgermeister Ken Livingstone hat einmal, im Ringen um mehr Befugnisse für City Hall, von der "unabhängigen Republik London" geschwärmt.

Das schottische Unabhängigkeits-Referendum im September 2014 brachte die Idee erneut ins Gespräch - vor allem, als Schottlands damaliger Regierungschef Alex Salmond das große London als den "Dark Star", den dunklen Stern, bezeichnete, der "Ressourcen, Menschen und Energien" Schottlands und des übrigen Vereinigten Königreichs "unerbittlich aussaugt und verschlingt".

Finanzpolitisch, räumten Kommentatoren damals ein, würde es in der Tat mehr Sinn ergeben, wenn anstelle von Schottland die 8,6-Millionen-Stadt drunten im Süden sich verselbstständigte. Zumal ein unabhängiges London nach Einschätzung des Ökonomen Sean O´Grady wirtschaftlich "auf einer Stufe stünde mit der Schweiz oder mit Schweden", und an Wirtschaftskraft doppelt so stark wäre wie zum Beispiel die "Löwenstadt" Singapur.

Schon lang vor der gegenwärtigen Brexit-Aufregung hat ein Dozent der London School of Economics (LSE), der Separatismus-Experte James Ker-Lindsay, London sogar bescheinigt, es könnte als eigener EU-Staat, "ein ganz schön bedeutendes Mitglied der Union sein", solange es nur seinen "Status als Finanzmacht" zu wahren verstehe.

Als Aprilscherz setzte das Finanzblatt "City A.M." dieses Jahr sogar die Nachricht in die Welt, die Korporation der City of London, also die Selbstverwaltung des Finanzdistrikts der britischen Hauptstadt, wolle im Falle eines Brexit unmittelbar die Unabhängigkeit für die City ausrufen, um sich weiteren Anschluss an die EU zu sichern. Pläne dafür seien in den alten Grotten der Guildhall geschmiedet worden - unter striktem Ausschluss der Öffentlichkeit.

Was der Scherz deutlich macht ist die Nervosität, die viele City-Leute vor dem Volksentscheid am 23. Juni ergriffen hat. Den Finanzexperten PricewaterhouseCoopers zufolge könnte ein britischer EU-Austritt die Finanzwirtschaft auf der Insel erheblichen Einfluss und 100.000 Jobs kosten - die meisten davon zwischen Guildhall und Canary Wharf, also im Londoner Finanzbezirk.

Brexit-Befürworter wie der frühere Boss der HSBC-Bankengruppe, Michael Geoghegan, halten solche Warnungen freilich für bloße Angstmacherei. "In Wahrheit ist die City das größte Finanzzentrum Europas und vielleicht der ganzen Welt", meint Geoghegan. "Die EU wird alles tun, um sicher zu stellen, dass sie weiter unbehinderten Zugang zu London hat."

Nicht nur in der City of London hat die Möglichkeit eines britischen EU-Austritts Unruhe geschaffen. Im gesamten Londoner Stadtbereich, grob gesprochen dem Bereich innerhalb der Ringautobahn M25, fragen sich die Bürger, was ihnen "die englische Provinz" beim Referendum im Juni wohl bescheren wird.

Tatsächlich ist London nach Nordirland und Schottland die am stärksten pro-europäische Region Großbritanniens. Während die Stimmung im ganzen Land bei 50:50 liegt, sind dem YouGov-Institut zufolge 58 Prozent der Londoner für einen Verbleib in der EU und nur 42 Prozent dagegen. In weiten Teilen Englands ist es genau umgekehrt.

Das bedeutet nicht unbedingt, dass morgen schon Grenzsoldaten an der M25 aufziehen werden. Es signalisiert aber den sich ständig verschärfenden Gegensatz zwischen London und seinem "Hinterland". Ein Gutteil Londons, einschließlich der Londoner City, fühlt sich der restlichen Welt längst stärker verbunden als den englischen Provinzen rund um London. Das war nicht immer so. Früher einmal herrschte reger Austausch zwischen der Hauptstadt und den anderen Teilen des Landes. Noch vor einem Vierteljahrhundert war London keineswegs so übermächtig, wie es das heute ist.

Zwischen Kriegsbeginn 1939 und dem Ende der 1980er Jahre hatte die Stadt immerhin ein Viertel ihrer Bevölkerung eingebüßt - erst durch Evakuierung, dann durch den gezielten Bau neuer Wohn- und Schlafstädte jenseits des "Grünen Gürtels" des Londoner Stadtbereichs.

Margaret Thatchers "Big Bang"

Der "Big Bang" in der City in der Thatcher-Ära, die Internationalisierung der Geldmärkte, der Abbau von Planungskontrollen und die Neubesiedlung derelikter Gebiete wie der Docklands, der alten Hafenanlagen im Osten, brachten die Wende. Inzwischen ist London im Blick vieler Londoner nicht mehr nur die erste unter den britischen Städten. Es ist eine Stadt von globaler Reichweite. Sie definiert sich im Weltkontext. Längst nicht mit Manchester vergleicht man sich in London, sondern immer nur mit New York.

So stolz aber Londons Finanzwelt, die politischen Führungen in Westminster und auch viele Londoner selbst auf die Stadt sind, die sie für "die heimliche Hauptstadt der Welt" halten, so fremd kommt ihren Mitbürgern "draußen" im Land oft die eigene Metropole vor. Fremd im buchstäblichen Sinn: Denn das total überteuerte London scheint heute eher Touristen und reiche Ausländer aus aller Welt willkommen zu heißen als mittellose Briten aus Rotherham oder Rochdale.

Selbst der Erfolg der rechtspopulistischen Anti-EU-Partei Ukip in den letzten Jahren ist zum Teil aus dem provinziellen Überdruss an der "Londoner Elite", am wohlbetuchten "Establishment" zu verstehen. Mit unverhohlenem Ressentiment blicken kleine und große Orte in ferneren Teilen Englands nach London. Für viele ihrer Bewohner ist die Stadt, in der die meisten Milliardäre der Erde leben, wegen astronomischer Wohn- und Lebenshaltungskosten unerreichbar geworden.

Und halbherzige Versuche der Londoner Regierung, Nordengland zu einem neuen post-industriellen "Powerhouse" zu machen, haben bislang wenig Früchte getragen. Heute läuft in London mehr als ein Fünftel des in ganz Britannien erzeugten Geldflusses zusammen.

Mittelfristig, prophezeien britische Ökonomen, werde sich der Abstand zwischen London und dem Rest des Landes sogar noch dramatisch vergrößern, während London auf zehn Millionen Einwohner im Jahr 2030 zusteuere. Jene, die den Aufstieg Londons zur finanzpolitischen und polyglotten Weltmacht feiern, wollen an dieser Entwicklung aber nicht rühren lassen.

Die Rede vom alles verschlingenden "dunklen Stern" sei doch "lächerlich", meint der scheidende Tory-Bürgermeister der Stadt, Boris Johnson. Ganz im Gegenteil sei London die Lokomotive, die dem gesamten Land Dampf mache und es mit sich ziehe. Ein in London investiertes Pfund, war immer Johnsons Überzeugung, sei deshalb auch "von viel größerem Wert" als eines, das man zum Beispiel der schottischen Westküste zukommen lasse.

Provinzen gegen Zentrum

Andere sagen es mit unverhohlenem Spott. Ein in London stationierter US-Bankenboss wurde jüngst mit der Bemerkung zitiert, London sei "eine erstklassige Stadt, die ein zweitklassiges Land mit sich herum schleppt". Der Kern des Separatismus ist in dieser Äußerung angelegt.

Die Provinzen ärgert diese Haltung begreiflicherweise. Aus ihrer Sicht geht das Wachstum Londons auf Kosten der übrigen Nation. Öffentliche Investitionen, klagen sie, kämen vor allem London zugute. London schlage außerdem Profit aus Operationen überall im Königreich und ziehe mit Macht qualifizierte Arbeitskräfte und Kapital aus den Provinzen ab.

London verwandle sich zunehmend "in eine Art Singapur" der gemäßigten Zonen, warnt der politische Philosoph John Gray seine Mitbürger: "In eine wohlhabende städtische Insel, umgeben von verarmten Satrapen." In der Vergangenheit hätten die anderen Regionen noch spezifische Stärken gehabt und für Austausch zwischen sich und der Hauptstadt gesorgt, erklärt auch der Autor Will Self. Jetzt hingegen verwandle sich die M25, der Asphalt-Ring um London, in einen "immer tieferen Graben", über den bald keine Brücke mehr führen werde.

Reich gegen Arm

Ganz fair ist es andererseits nicht, immer nur vom Gegensatz zwischen London und dem Rest des Königreichs zu reden. Denn natürlich hat auch London, im Kontrast zu seinem unglaublichen Reichtum, seine Armen-Bezirke. Auch in der Stadt selbst tritt der soziale Gegensatz immer schärfer zutage. Eine Statistik belegt, dass die reichsten zehn Prozent in Großbritannien 100 mal so viel wie die ärmsten zehn Prozent besitzen - die reichsten zehn Prozent in London aber mindestens 250 mal so viel wie das ärmste Zehntel in der Stadt.

Weniger eine geografische als eine sozialökonomische Frage sei das Ganze, kommentieren Kritiker solche Befunde.

Auf der Linken werden der Siegeszug des Individualismus und der Märkte und die Rücknahme staatlicher Planung seit den Jahren Margaret Thatchers für diese Entwicklung verantwortlich gemacht.

Demografie-Professor Danny Dorling von der Universität Oxford rät denn auch zu radikalem Umdenken - zu echter, massiver Unterstützung der Provinzen, aber auch zu Maßnahmen wie Mietkontrollen und weitflächigem sozialem Wohnungsbau in London, um Normalsterblichen dort das Leben zu erleichtern. Dieselbe Forderung hat Labours Kandidat fürs Bürgermeisteramt, Sadiq Khan, erhoben. Über die Nachfolge von Boris Johnson als Bürgermeister stimmen die Londoner an diesem Donnerstag ab.

Für Strategen wie Khan oder Dorling wäre ein gezielter Ausgleich zwischen den immer ungleicheren Elementen Großbritanniens jedenfalls eine bessere (und realistischere) Lösung als der kuriose Traum von einer Sezession Londons. Dabei räumt auch LSE-Dozent Ker-Linsay, der Separatismus-Experte, gern ein, dass so eine Abspaltung in der Praxis nicht ganz leicht durchzuführen wäre.

Dass ein unabhängiges London eine Hymne, eine Flagge und ein eigenes Fussball-Team bräuchte, wäre wohl noch das geringste der Probleme. Eine etwas größere Herausforderung ist die Frage, wie die Grenzen eines Stadtstaates London gegen Hunderttausende tägliche Pendler zu sichern wären - und wo man das britische Parlament hinschaffen sollte, das sich dann um den Rest des Königreichs kümmern müsste.

Kein Problem böte zumindest die Queen, im Falle einer Unabhängigkeits-Erklärung Londons. Sie bekäme einfach den zusätzlichen Titel "Königin von London" verliehen. Außer, die Londoner entschieden sich für eine republikanische Verfassung. Dann müsste Elizabeth II. natürlich aus dem Buckingham ausziehen. Vielleicht gefiele ihr ja Birmingham?