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"Erdogan schürt Hass auf die Kurden"

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

In der Türkei ist die Verfassungsänderung amtlich - und damit die Aufhebung der Immunität vieler Abgeordneter.


Auf Betreiben von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ist die Immunität von mehr als einem Viertel der Abgeordneten im türkischen Parlament aufgehoben worden, darunter fast der gesamten Fraktion der prokurdischen, linken "Partei der Völker" (HDP). Durch die Veröffentlichung im Amtsblatt trat die international kritisierte Verfassungsänderung am Mittwoch in Kraft. Gegen die HDP - sie kam bei der Wahl im November 2015 auf 10,8 Prozent der Stimmen und stellt 59 der 550 Sitze im Parlament in Ankara - sind zahlreiche Verfahren anhängig, vor allem wegen angeblicher Unterstützung und Propaganda für eine Terrororganisation.

Erdogan wirft der HDP vor, der politische Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein, was die Partei bestreitet. Nach der Aufkündigung des Friedensprozesses durch den Staat vor einem Jahr sind die Kämpfe zwischen der PKK und den staatlichen Sicherheitskräften wieder aufgeflammt und eskalieren ständig weiter. Die PKK-Jugendorganisation YDG-H hatte den Bürgerkrieg in die Städte getragen, doch haben Polizei und Militär den Häuserkampf inzwischen niedergeschlagen. Das Ergebnis: verwüstete Städte, mehr als 11.000 zerstörte Häuser; mehr als 4000 Militante, über 400 Sicherheitskräfte und hunderte Zivilisten wurden getötet, 500.000 Menschen vertrieben. Zugleich hat die PKK den Guerillakrieg in den Bergen wieder intensiviert. Nach mehr als 30 Jahren ist kein Ende des Konflikts absehbar. Die "Wiener Zeitung" traf Selahattin Demirtas (43), kurdischer Rechtsanwalt und seit 2014 Co-Vorsitzender der HDP, zum Interview.

"Wiener Zeitung": Herr Demirtas, wann müssen Sie ins Gefängnis?

Selahattin Demirtas: Mit der Bestätigung des Gesetzes durch Erdogan hat die Staatsanwaltschaft 15 Tage Zeit, eine Anklage bei Gericht einzureichen. Es wird eine Vorladung der Staatsanwaltschaft geben, der werden wir nicht Folge leisten, dann wird die Polizei geschickt, die muss alles Weitere machen. Also in etwa einem Monat.

Rechnen Sie ernsthaft damit?

Ziemlich sicher. Allein gegen mich laufen 87 Ermittlungsverfahren. Allesamt aufgrund von Äußerungen, die ich getätigt habe. Mir wird von Terrorpropaganda über Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung bis zur Beleidigung des Staatspräsidenten fast alles vorgeworfen, was das türkische Strafgesetzbuch hergibt. Da ich nicht bereit bin, eine Aussage bei der Staatsanwaltschaft zu machen, kann es gut sein, dass sie mich in Untersuchungshaft nehmen.

Was wollen Sie und Ihre Partei gegen den Rauswurf aus dem Parlament unternehmen?

Wir haben das Verfassungsgericht angerufen und werden uns an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden. Unser politischer Kampf geht natürlich trotzdem weiter. Wir werden uns auch nicht einfach der Polizei stellen, sie müssen uns schon im Parlament abholen.

Was verspricht sich Erdogan Ihrer Meinung nach davon?

Neuwahlen im Herbst, weil er zurzeit keine verfassungsändernde Mehrheit im Parlament hat. Dann hofft er darauf, entweder uns oder die rechtsnationalistische MHP unter die Zehn-Prozent-Hürde zu drücken. Die AKP hätte dann genug Stimmen, um allein im Parlament oder durch ein Referendum die von ihm angestrebte Präsidialverfassung durchzusetzen. Es gibt ohnehin diesen nationalistischen Hass gegen die Kurden. Erdogan schürt den Hass auf die Kurden, um so alle nationalistischen Stimmen auf sich zu vereinen. Sein Kalkül ist, dass wir keinen richtigen Wahlkampf machen können, wenn die Fraktion im Gefängnis sitzt.

Die Regierung hat gerade den Sieg im Kampf um die Städte im Südosten verkündet. Der Aufstand der PKK sei niedergeschlagen worden. Wie sehen Sie das?

Welchen Sieg? Tausende Menschen, darunter viele Zivilisten, sind getötet worden. Rund 500.000 Menschen haben ihre Häuser verloren und sind nun auf der Flucht. Ganze Viertel in den südostanatolischen Städten Diyarbakir, Cizre oder Silopi liegen in Schutt und Asche. Was sie gewonnen haben, ist noch mehr Hass der Kurden auf die Regierung.

Es gibt aber auch in den kurdischen Gebieten viel Kritik an der PKK, weil sie den Krieg in die Städte getragen hat.

Ja es gibt Kritik an der PKK, aber von anderen auch Unterstützung. Denn was ist tatsächlich in diesen kurdischen Städten passiert? Kurdische Jugendliche, die nicht alle unbedingt in der PKK organisiert sind, wollten die Polizei aus ihren Vierteln vertreiben und haben deshalb Gräben ausgehoben und Barrikaden errichtet. Musste man darauf mit dem Einsatz von Panzern und Artillerie reagieren? Musste man ganze Stadtviertel zusammenschießen und die Bewohner monatelang daran hindern, auf die Straße zu gehen? Die Regierung hat ihrem eigenen Volk den Krieg erklärt.

Die Zerstörungen in Cizre oder der Altstadt von Diyarbakir sind gewaltig. War nicht von vorneherein erkennbar, dass dieser Aufstand völlig sinnlos war und dazu diente, das gewaltsame Vorgehen des Staates zu legitimieren?

Wir haben den Aufstand nicht unterstützt, sondern im Gegenteil immer wieder dazu aufgefordert, das nicht zu tun. Die Jugendlichen dort haben gesagt, dass sie die Polizei nicht angreifen würden, solange diese nicht in die Stadtteile reingeht. Im Prinzip hätte man den Konflikt auch auf friedliche Art durch Gespräche lösen können. Wir haben uns hinter die Zivilbevölkerung gestellt, denn das sind unsere Wähler, aber die Regierung hat uns dann beschuldigt, dass wir den bewaffneten Kampf mitgemacht hätten.

Die Jugendlichen hatten sich Waffen besorgt. Wenn überhaupt jemand im Südosten mit ihnen reden kann, dann doch wohl die HDP. Wir wissen, dass die HDP in einem Stadtteil von Diyarbakir dazu beigetragen hat, den Aufstand zu beenden. Warum haben Sie das nicht auch an den anderen Orten gemacht?

Wir haben das natürlich versucht, wir haben es intensiv und überall versucht. Wir haben auch mit der Regierung darüber gesprochen. In manchen Orten hatten wir Erfolg, in anderen eben nicht. Aber das eigentliche Verbrechen hat die Regierung begangen. Selbst wenn da bewaffnete Jugendliche sind, hat sie nicht das Recht, mit Panzern auf sie zu schießen und ganze Städte in Schutt und Asche zu legen.

Trotzdem entsteht der Eindruck, dass die HDP den Einfluss auf diese Jugendlichen verloren hat . . .

Nicht vollständig. Was man aber sagen kann, ist, dass die AKP den Zugang zu ihnen völlig verloren hat. Sie glauben nicht mehr an eine politische Lösung des Kurdenkonflikts, und deshalb vertrauen sie auch der HDP nicht mehr wie früher, schnappen sich Waffen oder gehen in die Berge.

Sie haben Kontakte zur PKK oder können diese zumindest herstellen. Wissen Sie, warum die PKK die Jugendlichen nicht gestoppt hat?

Wir haben seit langem keine Verbindung mehr zur PKK-Führung. Die sitzen im Nordirak und werden ständig bombardiert.

Verstehen Sie die PKK? War die Rebellion nicht sinnlos?

Ich glaube nicht, dass die PKK-Führer sie als sinnlos betrachten oder denken, dass sie verloren haben. Die sehen eher, dass sie acht Monate lang Widerstand gegen die Staatsgewalt und das Militär geleistet haben. Dabei mussten sie noch nicht einmal ihre erfahrenen Kämpfer einsetzen. Fast alle Kämpfer in den Städten waren Jugendliche, die dort gelebt haben, keine PKK-Kader aus den Bergen.

Ist es nicht menschenverachtend, so viele junge Leute in den sicheren Tod zu schicken?

Wenn ich dafür gewesen wäre, dass man sie in den Tod schickt, dann wäre ich auch dort gewesen. Aber ich bin hier und lade die Jugend dazu ein, Politik zu betreiben. Die PKK hat eine andere Sicht als wir. Für sie waren die Kämpfe in den Städten ein Mosaikstein im Krieg in der ganzen Region. Die PKK kämpft in der Türkei, im Irak, in Syrien und im Iran. Sie sieht diese Kämpfe nicht als innenpolitisches Problem der Türkei.

Sie dagegen wollen nicht nur eine kurdische Partei sein, sondern eine linke Alternative für die ganze Türkei. Ist die HDP seit dem Beginn der Kämpfe im letzten Sommer zwischen der PKK und der Regierung zerrieben worden?

Nein, aber eine Kriegspolitik verringert immer den Handlungsspielraum für zivile Politik. Das war ja ein Ziel von Erdogan. Die AKP will die türkische Bevölkerung glauben machen, wir seien lediglich ein Anhängsel der PKK. Wir lassen uns dieses Stigma aber nicht aufdrücken. Wir kämpfen weiter für eine linke Alternative in der ganzen Türkei.

Es hat der HDP im Westen der Türkei aber sehr geschadet, dass HDP-Abgeordnete zu Beerdigungen kurdischer Selbstmordattentäter gegangen sind, statt sich von den Attentaten zu distanzieren.

Ja, unsere Abgeordneten müssen vorsichtiger sein. Aber zu den Beerdigungen sind alle unsere kurdischen Anhänger gegangen. Sollen wir die alleine lassen?

Sie haben sich immer für eine politische Lösung der kurdischen Frage eingesetzt und gefordert, die Friedensverhandlungen zwischen der PKK und der Regierung müssten wiederaufgenommen werden. Sehen Sie denn jetzt, nach der Niederschlagung des Aufstandes in den Städten, eine Chance dazu?

Nein. Irgendwann einmal, aber nicht mehr in diesem Jahr. Erst einmal will Erdogan nun seine Präsidialverfassung durchsetzen.

Obwohl der Aufstand in den Städten jetzt beendet ist, wird weitergekämpft. Erdogan hat angekündigt, dass die Sicherheitskräfte weitermachen, bis der letzte "Terrorist" getötet ist. Glauben Sie, dass der Präsident wirklich bereit ist, einen Bürgerkrieg zu riskieren?

Wenn Erdogan glaubt, dass es für die Absicherung seiner Macht notwendig ist, wird er das ganze Land in Trümmer legen.

Verschwörungstheorie

"Deutsches Werk": So titelte die regierungsnahe türkische Zeitung "Günes" am Mittwoch. Sie macht Deutschland für den Autobombenanschlag in Istanbul am Dienstag, bei dem mindestens elf Personen ums Leben kamen, verantwortlich. Am Mittwoch detonierte im Südosten des Landes eine weitere Bombe, drei Menschen starben.

Deutschland habe die harte Reaktion der Türkei auf die "beschämende" Völkermordresolution des Deutschen Bundestages vergangene Woche nicht ertragen, schrieb "Günes" zum Istanbul-Anschlag. "In Panik geratend, ist es in alte Gewohnheiten zurückgefallen. Es hat die Terrororganisationen, die es als Marionette benutzt, einen blutigen Anschlag in Istanbul verüben lassen." Mit einer Auflage von gut 100.000 Exemplaren gehört "Günes" zu den zehn größten Zeitungen des Landes, wenn man die Sportpublikationen nicht berücksichtigt.

Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu hatte am Dienstag unterstellt, deutsche Medien würden in ihrer türkeifeindlichen Berichterstattung gesteuert. "Keine von den türkeifeindlichen und Recep-Tayyip-Erdogan-feindlichen Schlagzeilen ist Zufall", so der Politiker von Erdogans AKP.