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"Hilflosigkeit schürt Spannungen"

Von Siobhán Geets

Politik
Mitarbeiter des Roten Kreuzes helfen Flüchtlingen auf der griechischen Insel Lesbos.
© ÖRK

Lidwina Dox vom Roten Kreuz über griechische Flüchtlingslager.


"Wiener Zeitung": Die von Österreich initiierte Schließung der Balkanroute hat die Situation in Griechenland drastisch verschärft. Wie sieht die Lage heute, vier Monate nach der Schließung der mazedonischen Grenze aus?

Lidwina Dox: Es ist sehr schwierig für die Flüchtlinge vor Ort. Es sind derzeit 15 bis 20 Camps, 54.000 Menschen sitzen in Griechenland fest. Pro Camp sind es rund 1500 bis 3000 Menschen. Sie wissen nicht, was nun mit ihnen geschehen wird. Organisationen, darunter das Österreichische Rote Kreuz, versuchen, ihnen ein anständiges Leben zu ermöglichen. Wir kümmern uns in drei Camps in Nordgriechenland um die Sanitären Anlagen.

UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon sagt, die Internierungen von Flüchtlingen in Griechenland müssten "sofort aufhören". Wie sind die Zustände in den Lagern?

Schlecht. Es sind viele Frauen und Kinder da - die keine Beschäftigung haben. Wir befassen uns mit der Frage, was man tun kann, damit die Situation nicht kippt? Auch die Natureinflüsse waren im Frühjahr massiv. Wir hatten enorme Stürme, die riesigen Zelte hat es davongeblasen, sogar unsere Büro-Container wurden vom Wind versetzt. Das war eine sehr schwierige Situation. Die Menschen kommen über das Meer, Familien werden zerrissen, die Leute sind traumatisiert, dann werden sie in den Lagern festgehalten. Sie bekommen ja auch keine Informationen über die nächsten Schritte und darüber, was nun mit ihnen geschehen soll. Die Ahnungslosigkeit, die Natureinflüsse - das war und ist enorm schwierig für die Menschen.

Gibt es Ausschreitungen und Spannungen in den Lagern?

Ja, das ist ein großes Thema. Man darf nicht vergessen, dass die Menschen ihre Probleme von zu Hause mitgebracht haben. Natürlich treten da Spannungen auf. Es ist unsere Aufgabe, dem zu einem gewissen Grad entgegenzuwirken. Wir versuchen, die Situation im Camp zu verbessern, damit sich alles etwas beruhigt. Das Potenzial dafür, dass das in die Luft geht, ist riesengroß.

Sie sprechen von der Gefahr einer Eskalation?

Wir haben am Anfang regelmäßig evakuiert. Erst, als wir anfingen, konsequent mit den Leuten zu arbeiten, ist das immer weniger geworden. Man muss das verstehen: Die Menschen sitzen in dieser schrecklichen Situation fest, niemand redet mit ihnen und keiner kennt sich aus. Wenn sie merken, dass sie ernst genommen werden, dass die Organisationen daran arbeiten, die Situation zu verbessern, dann beruhigen sich auch die Gemüter. Hilflosigkeit schürt Spannungen.

Haben Sie Infos über sexuelle Gewalt in den Camps, gibt es Stellen, an die sich Opfer wenden können?

Es gibt keine Informationen dazu und es ist mir auch nicht bekannt, dass es im Camp offizielle Stellen gibt, an die sie sich hinwenden können. Sie werden allerdings dazu aufgefordert, Vorfälle der Polizei zu berichten. Das tun aber viele nicht, weil sie Angst haben, was dann passiert - und dass das im Camp zu Schwierigkeiten führt. Die Menschen stehen unter Druck und schlucken oft Brutalitäten herunter. Wir hatten aber Situationen, die wir der Polizei berichten müssen. Es ist viel Angst da, es kommt zu Kämpfen und Handgreiflichkeiten.

Ban lobte auch die Großzügigkeit Griechenlands in der Flüchtlingskrise. Wie ist die Stimmung gegenüber den Schutzsuchenden in dem Pleitestaat?

Die Griechen, mit denen ich zu tun hatte, sind der Situation gegenüber sehr offen. Das hellenische Rote Kreuz und andere engagieren sich sehr. Es gibt genug Freiwillige, die jeden Tag hinausgehen, um Hilfsgüter zu verteilen. Meine Kollegen sagen mir aber, dass die Menschen in den Dörfern sich schon bedroht fühlen, wenn mehrere Flüchtlinge kommen, um dort einzukaufen. Ganz geheuer ist das den Leuten nicht, wenn ein Camp neben dem nächsten aus dem Boden gestampft wird.

Wie viele Menschen verschwinden aus den Lagern?

Das ist eine schwierige Frage. Wir stellten fest, dass Verzweifelte sich zu Fuß auf den Weg nach Norden machten, nachdem sie merkten, dass nichts weitergeht. Die meisten kommen aber zurück, weil sie es nicht über die Grenze schaffen. Jetzt, wo sie merken, dass etwas weitergeht, habe ich das Gefühl, dass mehr Ruhe hineinkommt. Im April oder Mai sind täglich 15 bis 20 Menschen losgegangen. Das kann sich aber wieder ändern, je nachdem, was passiert.

Lidwina Dox ist Katastrophenhelferin des Roten Kreuzes in Griechenland. Seit Beginn der Flüchtlingskrise war sie immer wieder auf Kos, Lesbos und in nordgriechischen Flüchtlingslagern im Einsatz.