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Weinen um Europa

Von Teresa Reiter aus Alpbach

Politik

Der britische Diplomat Robert Cooper über den Verlust, der Briten und der EU nach dem Brexit.


"Wiener Zeitung": In den letzten Tagen sah es so aus, als wollten die Briten versuchen, Teil des europäischen Binnenmarktes zu bleiben. Wie viel Zustimmung gibt es dafür im Land?

Robert Cooper: Ich glaube nicht, dass es da schon eine Strategie gibt. Das Ergebnis des Referendums war ein Schock, auch für die Menschen, die für den Austritt aus der Union plädiert hatten. Ich weiß nicht, ob Sie dieses Foto von Michael Gove und Boris Johnson gesehen haben, als sie das Resultat sahen. Sie sahen aus, als hätten sie eine Leiche gesehen. Die Leave-Kampagne hat nie genau gewusst, was sie war. Sie hatte keine Vision. Man war sich sicher, dass man keine Europäische Union wollte und kein Mitglied von so etwas sein. Ich glaube, man wollte eine Art Paradies auf Erden, aber wie das aussehen sollte, wusste man auch nicht. Die hatten keinen Plan und erzählten Menschen eine Menge Dinge, die nicht wahr waren, eine Menge Dinge, die unwahrscheinlich waren, und dann noch Dinge, die von blanker Arroganz gegenüber der EU zeugten. Als David Cameron zurücktrat, gab es überraschenderweise schnell Wahlen bei den Konservativen und Theresa May wurde Premierministerin.

Wie kann es sein, dass man nicht weiß, ob man Teil des Binnenmarktes bleiben will oder nicht?

Als Theresa May ihr Kabinett zusammengestellt hatte, war es bereits Mitte Juli. Zwei Wochen sind nicht genug, um sich eine Politik zu überlegen. Eine Menge Menschen innerhalb der britischen Regierung verstehen nicht, was der Binnenmarkt überhaupt ist. Ich weiß nicht, ob ich selbst es weiß, denn der Binnenmarkt kann je nach Zusammenhang vieles bedeuten. Sie kennen das Prinzip, dass jeder in der EU Geschäfte machen kann, egal in welchem Land. Aber dann gibt es Situationen, in denen das nicht gilt. Als ich etwa nach Belgien zog, dachte ich, ich kann mein Auto mit den Versicherungen belassen, die ich in Großbritannien hatte, aber das geht trotz Binnenmarkt nicht. Es kommt also auf den Sektor an. Viele Politiker in Großbritannien sprechen über den Binnenmarkt, als wäre er eine Freihandelszone. Ich bin nicht einmal sicher, dass sie alle verstanden haben, dass es eine Zollunion ist.

Versteht Theresa May, womit sie sich da gerade beschäftigt?

Sie selbst hätte keinen Grund, sich damit besonders gut auszukennen. Sie versteht die EU sehr gut, was innere Angelegenheiten und Justiz angeht. Aber wenn man nicht persönlich in einem Bereich gearbeitet hat, ist es sehr schwer, alles zu verstehen, denn in der EU hängt alles von Details ab. Es wundert mich nicht, dass es noch keine Antwort auf die Binnenmarktfrage gibt. Das wird sicher noch einige Zeit dauern.

Das Ergebnis des Referendums hat viele in der EU mit dem Gefühl zurückgelassen, dass man mit ihnen Schluss gemacht hat. Es war ein sehr ungutes Gefühl . . .

In Großbritannien fühlen sich auch viele, als hätte sie ihre Freundin verlassen. Ich selbst glaube, dass das ein Desaster für Großbritannien ist, sehr schlecht für Europa und dass die Kampagne eine Schande war und die Methode der Entscheidung nicht gut. Warum haben wir das getan? Wegen der konservativen Partei. Und wegen wie vielen Menschen in dieser Partei? Einer Handvoll. Cameron pflegte zu sagen, dass die Leute Mitspracherecht in der EU wollen. Es gibt keinerlei Beweise dafür. Wenn man die Briten fragt, was ihnen die fünf wichtigsten Themen sind, kommt die EU nicht einmal vor. Sie sagen dasselbe wie jeder andere in der EU: Jobs, Sicherheit, Bildung, Gesundheit und dann vielleicht noch Immigration.

Immigration war das Schlüsselwort . . .

Ukip war eigentlich mehr eine Anti-Immigrationspartei als eine Anti-EU-Partei. Natürlich war sie beides, aber wenn man die Wähler fragt, dann geht es meist um Einwanderung. Eine typische, ekelhafte, rechte Partei eben.

Ist es mit Ukip nun vorbei?

Das ist schwer zu sagen, weil diese Partei einfach immer aussieht, als befände sie sich im totalen Chaos. Wie jemand einmal in einem anderen Zusammenhang gesagt hat: Wenn ich sie an einer Kreuzung sehen würde, mit einem Holzpflock durchs Herz gestoßen, ich würde immer noch Knoblauch bei mir tragen. Aber Ukip repräsentiert eine Gruppe Menschen, die Sorgen haben, von denen viele ehrlich und nicht unvernünftig sind. Die Antwort darauf war eben nicht sehr intelligent, aber Globalisierungskritik manifestiert sich in Großbritannien in EU-Kritik, weil niemand weiter als bis Frankreich blickt.

Sie haben gesagt, es gibt noch keinen Plan, aber haben Sie nicht das Gefühl, dass man versuchen wird, sich einen Deal auszuhandeln, in dem viele der Vorteile der EU bestehen bleiben und man nur die Verpflichtungen loswird?

Ich weiß es nicht und ich weiß nicht einmal, ob der Brexit-Flügel bei den Konservativen das gut finden würde. Ich verstehe die emotionale Reaktion der EU-Staaten darauf, aber wir haben auch eine. Es gab viele Nächte nach dem Referendum, in denen ich wirklich nicht gut geschlafen habe. Vielen Leuten ging es so. Viele sagen, wir sind ein Land von Euroskeptikern, aber viele, speziell jüngere Leute, sind weinend zusammengebrochen, als sie das Ergebnis sahen. Wenn Theresa May einen Deal verhandeln könnte, wie sie es beschreiben, dann wäre das großartig.

Glauben Sie, dass sie das möchte?

Ich glaube, sie weiß es noch nicht. Sie hat sehr aufgepasst und nicht sehr viel gesagt, was ich für einen intelligenten Zugang halte. May sagte, Brexit heiße Brexit und sie werde ihn liefern, aber niemand weiß, was das bedeutet. Ihr Ruf ist, dass sie sehr viel nachdenkt und skeptisch ist, ganz anders als David Cameron, der immer dachte, alles ist leicht, weil er aus der richtigen Klasse kommt. Theresa May möchte die Dinge im Detail verstehen, die Kosten und Nutzen abwägen. Sie ist eine ernsthafte Person und sich ihrer Verantwortung bewusst.

Londons Finanzbezirk hat bereits vor dem Referendum geäußert, dass viele Unternehmen von dort abwandern könnten, wenn sie sich plötzlich außerhalb des Binnenmarktes befinden würden. Wie war die Reaktion der City bis jetzt?

Es gibt verschiedene Gründe, aus denen man sich darum sorgen kann. Die Leave-Kampagne behauptete, alles würde leicht sein, man würde einfach viele Freihandelsabkommen verhandeln, Probleme in der Welthandelsorganisation lösen. Aber keiner von den Vorschlägen, die sie hatten, deckt vollständig den Dienstleistungssektor ab. Der ist aber sehr wichtig für die Wirtschaft der Briten, er macht etwa 80 Prozent des BIP aus. Das ist jetzt nicht alles aus der City of London, aber ich glaube, wenn man sich die Dienstleistungsexporte ansieht, dann kommt davon ein großer Anteil aus der City. Außerdem sind viele Jobs außerhalb der City von ihr abhängig. Was man in der City will, ist die Zukunft kennen. Wir stehen vor dem Risiko einer Rezession, weil diese Unsicherheit herrscht. Die Bank of England hat schon erste Maßnahmen gesetzt, weil die Unsicherheit uns paralysiert. Niemand investiert, vieles wurde einfach gestoppt.

Der Gouverneur der Bank of England, Mark Carney, hat aber bisher eine sehr gute Performance abgeliefert, oder?

Ja, man muss ihm wirklich Anerkennung zollen. Die Dinge, die er während der Kampagne gesagt hat, haben sich als wahr herausgestellt. Die wirklichen Verluste werden wir erst auf lange Sicht spüren. Das Instiute for Fiscal Studies hat geschätzt, dass wir drei Prozent des BIP durch den Austritt verlieren. Ich glaube, dass es mehr sein werden, aber auch drei Prozent sind schon das Wachstum von sechs Jahren.

Sie haben Ihr Leben im diplomatischen Dienst verbracht. Die EU war lange Zeit Ihr Job. Was bedeutet der Brexit für Sie?

Was ich an der Austrittskampagne wirklich nicht mochte, ist, dass niemand erklärt hat, was die Europäische Union überhaupt ist. Jedem in der EU muss klar sein, dass sie aus souveränen Staaten besteht - mit verpflichtender Kooperation vielleicht, aber souverän. Das sieht man bei jeder Krise, wenn nicht die Kommission entscheidet, sondern die einzelnen Staaten gemeinsam. Für mich hat das historisch das beste Europa produziert, das wir jemals hatten. Und ich bin traurig, dass wir während der Kampagne nichts davon gehört haben. Da ging es nur um die Wirtschaft. Die Wirtschaft ist wichtig, aber sie ist nicht der Punkt an Europa. Der Sinn der EU ist, dass sie verschiedene Arten von politischen Beziehungen in Europa geschaffen hat.

Robert Cooper ist britischer Diplomat und berät derzeit die EU-Kommission betreffend Myanmar. Er ist Mitglied des European Council on Foreign Relations und Autor für zahlreiche Fachpublikationen.