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"Russland weiß, dass Serbien in die EU gehört"

Von Anja Stegmaier

Politik

Der Politologe Ivan Vejvoda über den Zustand der Demokratie in Serbien.


"Kosovo ist Serbien": verunstaltete Konterfeis Putins und Trumps auf einer Häuserwand in Belgrad.

"Wiener Zeitung":In welchem Zustand befindet sich die Demokratie in Serbien?

Ivan Vejvoda: Eine voll entwickelte Demokratie hat sich als längere und schwierigere Aufgabe erwiesen, als viele nach dem Fall der Mauer 1989 erwartet hatten. 25 Jahre später sehen die Menschen, dass die Lasten der Vergangenheit immer noch schwer auf der Gesellschaft und der Regierung liegen. Seit dem Ende des Kommunismus gibt es mehr Freiheiten - wir haben ein demokratisches System. Politiker fühlen sich jedoch wegen der schwierigen Lage unsicher. Hinzu kommen autoritäre Tendenzen, wie etwa die Kontrolle der Medien. Auf der anderen Seite gibt es heute die sozialen Medien, in denen sich viele Menschen alternativ informieren können. Es liegt an uns Bürgern, die Demokratie zu verteidigen und Institutionen zu stärken.

Wie schaut es wirtschaftlich aus?

Die anhaltende Wirtschaftskrise trifft auch Serbien hart. Die Wachstumsraten sind schwach, die Arbeitslosenrate ist hoch. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 38 Prozent, in Bosnien-Herzegowina sogar bei rund 60 Prozent. Die gewählten Vertreter müssen mit einer fragilen, prekären Situation fertig werden. Der Lebensstandard fällt und wir haben einen großen "Braindrain" der Jungen und gut Gebildeten. Das spricht zwar für unsere Universitäten, aber diese Generation will eine bessere Zukunft und die bekommen sie auch geboten: Im Silicon Valley und in EU-Ländern. Für Serbien bedeutet das jedoch einen Verlust an Zukunft.

2013 wollten noch 70 Prozent der Serben den EU-Beitritt ihres Landes, aktuell sind es nurmehr 35 Prozent. Ist der EU-Beitritt gefährdet?

Premierminister Aleksandar Vucic wird laut neuesten Umfragen als Sieger in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen hervorgehen. Das liegt an seinem klaren pro-europäischen Kurs. Die Serben wollen der EU beitreten, weil sie darin mehr Rechtssicherheit, Wohlstand und Sicherheit sehen. Viele sind als Gastarbeiter nach Österreich, Deutschland und Frankreich gegangen. Man reist seit Jahrzehnten hin und her, hat Familie in ganz Europa. Die Eliten lassen sich im Westen ausbilden. Ich bin mir sicher, würde am Sonntag über den EU-Beitritt Serbiens abgestimmt werden, wäre eine klare Mehrheit dafür. Wir können uns in Serbien glücklich schätzen, geografisch in Europa zu sein. Die EU ist, trotz ihrer Probleme, attraktiv. Draußen zu bleiben ist keine Option.

Sind vor allem die Probleme mit dem Kosovo das Hindernis?

Vucic führt auch den Prozess an, die Beziehungen zum Kosovo zu normalisieren. Serbien und der Kosovo sind zu starkem Einsatz bereit, um der EU beitreten zu können. Das bedeutet, zu tun, worum es in der EU geht: Frieden stiften, Europa stabilisieren und alte Konflikte überwinden, wie es Frankreich und Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geschafft haben - wissend, dass es ein langwieriger Prozess voller Kompromisse ist. Kürzlich wurde eine Umfrage durchgeführt, ob die Serben bereit wären, für die Zugehörigkeit Kosovos zu kämpfen. 74 Prozent würden das nicht tun. Das zeigt, dass es möglich ist, zu überwinden.

Vucic genießt Anerkennung in der EU, gleichzeitig ist ihm wichtig zu zeigen, dass er gute Beziehungen zu Moskau unterhält. Regierungsnahe Medien strotzen vor pro-russischer Berichterstattung. Laut einer Befragung würden die meisten Serben im Fall einer Krise bei Russland um militärische Hilfe ansuchen.

Das hat durchaus mit dem Trauma der Nato-Bombardierung von 1999 zu tun. Und, dass Russland damals die Unabhängigkeit des Kosovo nicht akzeptiert hat. Seit Milosevic war es Anliegen diverser Politiker, gute Beziehungen zu Russland zu pflegen. Wie alle Länder, die nahe an Russland liegen, auch Ungarn und Österreich. Russland ist eine geografische und politische Realität. Wir sind Nachbarn und wir alle in Europa sind von ihrem Gas abhängig.

In der EU fürchtet man den Einfluss Russlands am Westbalkan, insbesondere in Serbien. Zu Recht?

Die russische Regierung weiß sehr genau, wohin die Westbalkanländer gehören. Sie gehören zur EU - der Westbalkan ist fast vollständig umschlossen von anderen EU- und Nato-Ländern. Serbien ist zudem wie Österreich Teil der Partnerschaft für den Frieden (PfP) der Nato. Serbien hat zehn Mal mehr militärische Kooperationen mit dem Westen und der Nato, als mit Russland. Der Grund, warum Russland so herausragt, ist, weil das Land alle Schlagzeilen in den Medien bekommt. Von den Nato-Aktivitäten hört und liest man kaum. Russland nutzt Gelegenheiten abseits der Energiepolitik und den Handelsbeziehungen, dem Westen seine Schwäche vorzuführen. Das Land versucht, den Erweiterungsprozess der EU zu verlangsamen. Moskau zeigt, es hat noch einen Fuß in der Tür.

Sind die Sorgen also übertrieben?

Der Westen übertreibt bei der Einschätzung der Rolle Russlands in der Region. Natürlich sind sie da und versuchen sich einzumischen - aber Serbien nimmt hier keine herausragende Rolle ein. In Deutschland und Frankreich finanziert Moskau etwa Medien und unterstützt rechte Parteien. Das ist ein Problem, denn sie nutzen ihre "Softpower", um präsent zu sein. Aber zu sagen, Serbien würde sich von der EU abwenden und Russland anschließen ist undenkbar - allein wegen der militärischen Kooperationen. Die zweite Ebene ist die ökonomische: Investitionen aus der EU sind unvergleichlich höher als jene aus Russland. Auch davon liest man selten. Sicherheit und Wirtschaft schweißen uns zusammen. Brot und Butter kommen aus dem Westen.

Was braucht das Land, damit es weiter vorangeht?

Die EU muss weiterhin starke Präsenz zeigen. Es ist wichtig, die Reformbemühungen zu unterstützen. Die Westbalkan-Konferenzen sind wichtig, um die Dynamik im Erweiterungsprozess beizubehalten. Sie sind für mich eine Art Neugestaltung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Länder arbeiten gemeinsamen an Infrastrukturprojekten. So auch Albanien und Serbien. Die transatlantische Komponente ist sehr wichtig für die Präsenz der Nato im Kosovo. Sie ist ein bedeutsamer Garant für den Frieden. Im Inland gilt, was die Geschichte jeder Demokratie lehrt: Die Menschen selbst müssen für mehr Freiheit und mehr institutionelle Stabilität kämpfen. Sie müssen schauen, dass sie die Wächter des Rechtsstaates werden und freien Zugang zu Information bekommen. Momentan müssen wir in Serbien wachsam sein, denn jeder Tag ist ein neuer Tag in der Demokratie - nichts ist für immer gegeben.

Ivan Vejvoda geboren in Belgrad, ist Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaft vom Menschen. Zuvor war der Westbalkan-Experte Senior Vice President des "German Marshall Fund of the United States" in Washington.