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Wählen, um zu verhindern

Von WZ-Korrespondentin Judith Kormann

Politik

2002 stand Marine Le Pens Vater überraschend gegen den Konservativen Jaques Chirac in der Stichwahl um das Präsidentenamt. Viele wählten damals Chirac um Le Pen zu verhindern - und tun sich heute schwer damit, dies zu wiederholen.


Paris. Brice Dubat erinnert sich gut an den 21. April 2002. Mit seiner Familie verfolgte der damals 14-Jährige im Fernsehen den ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl. Dann folgte die große Überraschung: Neben dem Konservativen Jacques Chirac zog Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl ein. "Ein Schock! Wir fragten uns, wie so etwas nur möglich geworden war", erzählt Dubat. Zum ersten Mal in der Geschichte Frankreichs stand ein Kandidat des extrem rechten Front National in der Stichwahl um das Präsidentenamt. Mit knapp 17 Prozent der Stimmen landete Le Pen hinter Jacques Chirac (19,9 Prozent) auf dem zweiten Platz und warf den Sozialisten Lionel Jospin aus dem Rennen. Entscheidend zu Le Pens Qualifikation beigetragen hatten eine Vielzahl an linken Kandidaten und eine Stimmenthaltung von 28,4 Prozent - die bisher höchste bei einer Präsidentschaftswahl.

Vereint gegen Rechts

Schwermütig richtete sich Chirac an jenem Abend an die Franzosen. Der "nationale Zusammenhalt und die Werte der Republik" stünden auf dem Spiel, so seine Worte. Noch in derselben Nacht gingen zahlreiche Menschen auf die Straße. "Das Erdbeben" titelte die konservative Zeitung Le Figaro am nächsten Morgen.

Das linksliberale Blatt Libération bildete Le Pen mit einem großen "Nein" auf der Titelseite ab. Der Mitbegründer des Front National verkörperte Fremdenhass und Antisemitismus. Mehr als einmal hatte er die Gaskammern des Dritten Reichs als "Detail der Geschichte" bezeichnet. Die Fernsehjournalistin Sophie Le Gall berichtete damals über Le Pens Erfolg. Von seinen Wählern wollten viele nur unerkannt Interviews geben. Chirac lehnte ein TV-Duell mit Le Pen entschieden ab.

Am 1. Mai 2002 protestierten mehr als 1,3 Millionen Menschen landesweit gegen den Front National. Auch Dubat ging auf der Straße. "Ich war zwar noch jung, aber alt genug, um zu begreifen, was in unserem Land vor sich ging", erinnert er sich. Die Reaktion der Franzosen war deutlich: Im zweiten Durchgang gewann Chirac mit mehr als 82 Prozent der Stimmen. Der Höhenflug des Front National war vorerst zu Ende. Bei den Parlamentswahlen im selben Jahr fiel die Partei auf rund elf Prozent der Stimmen zurück.

Fünfzehn Jahre später konnte Marine Le Pen den Erfolg ihres Vaters übertreffen. Diesmal kam ihre Qualifizierung wenig überraschend. Schon Monate zuvor hatten Umfragen die Rechtspopulistin in der Stichwahl gesehen. Seit ihrer Übernahme der Parteiführung 2011 hat Le Pen den Front National salonfähig gemacht. Viele Wähler zeigen ihre Anhängerschaft mit Stolz. "Der Front National ist heute nichts Abnormales mehr", urteilt der Politologe Thomas Guénolé. Die Partei werde auch von den Medien behandelt wie jede andere.

Am Tag nach der ersten Wahlrunde zierte nicht Le Pen, sondern der Erstplatzierte Emmanuel Macron die französischen Titelseiten. "Manche Journalisten haben sich dermaßen auf Macron konzentriert, dass man meinen hätte können, er sei bereits gewählt worden", bemängelt der Medienkritiker Daniel Schneidermann.

Präsident François Hollande zeigte sich auch über die Haltung des Favoriten beunruhigt. Dieser müsse sich des Ernstes der Lage bewusst werden. Noch sei nichts gewonnen, warnte Hollande.

Die Demonstrationen gegen den Front National fielen bescheiden aus. "Es gibt keine Massenmobilisierung der Bürger, der intellektuellen und kulturellen Eliten, wie vor 15 Jahren. Chirac musste damals keinen Wahlkampf machen, das übernahm das Volk", erinnert Politologe Guénolé.

"Weder Le Pen, noch Macron"

Am 1. Mai 2017 demonstrierten weniger als 150.000 Franzosen. Neben "Stoppt den Front National"-Rufen war auch ein anderer Slogan zu hören: "Weder Le Pen, noch Macron". Für einen Teil der Franzosen ist der wirtschaftsliberale Macron genauso wenig wählbar wie seine Gegnerin.

Bei den Anhängern des linken Jean-Luc Mélenchon ist diese Meinung weit verbreitet. Der Kandidat im ersten Durchgang erzielte 19,58 Prozent der Stimmen. Für die zweite Runde gab er keine Wahlempfehlung gegen Le Pen ab, was in Frankreich unüblich ist. Selbst der Konservative Fillon rief nach seiner Niederlage zu einer Wahl Macrons auf. Über 160.000 Anhänger Mélenchons verkündeten, am Sonntag ungültig zu wählen oder sich zu enthalten.

Auch Brice Dubat zögert, Macron seine Stimme zu geben. Er könne sich mit dem Programm des Favoriten nicht anfreunden. "2002 habe ich mich mit meinem Vater gestritten, weil er ungültig wählte. Doch heute sehe ich die Dinge anders", sagt er.