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Im Stich gelassen

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Einige Mieter hatten das Desaster erwartet. Aber niemand hatte ihnen Gehör geschenkt.


London. 36 Stunden nach dem Ausbruch des katastrophalen Feuers im Grenfell-Tower-Block in West-London züngelten in mehreren Wohnungen des Turms am Donnerstagnachmittag noch immer ein paar Flammen. Dutzende Menschen, darunter viele Kinder, sollen beim Brand des 24-stöckigen Wohnblocks in der Nacht zuvor ums Leben gekommen sein.

Aus Angst, dass Teile des Gebäudes einbrechen könnten, hielten sich nur kleine Gruppen der Londoner Feuerwehr gestern, Donnerstag, im Gebäude auf. Zuvor waren Feuerwehr-Leute unter Einsatz des eigenen Lebens bis zu den obersten Stockwerken durchgedrungen. Sie hatten sich davon überzeugen wollen, dass keine Überlebenden in Grenfell Tower zu finden waren. Zwischen 400 und 600 Personen sollen sich in der Nacht des Feuers in dem Block im Londoner Stadtteil Nord-Kensington befunden haben. Viele von ihnen galten am Donnerstag als vermisst. Es werde "wohl Wochen" dauern, bis man über die wahre Zahl der Opfer Klarheit habe, machte der Londoner Polizei-Kommandant Stuart Cundy deutlich.

Kinder wurden ausdem Fenster geworfen

Das Feuer, das in der Nacht auf Mittwoch gegen ein Uhr nachts ausgebrochen war, hatte auf einer der unteren Etagen begonnen. Es ergriff schnell vom gesamten Gebäude Besitz.

Viele der Eingeschlossenen wurden zuletzt in brennenden Fensterrahmen gesichtet, in denen sie verzweifelt nach Hilfe riefen. Einige sprangen aus den Fenstern oder warfen ihre Kinder in die Tiefe. Augenzeugen sprachen von "fürchterlichen Szenen".

Eine der vielen schrecklichen Geschichten, die gestern nach und nach ans Tageslicht kamen, war die der Eltern des kleinen Issac Shawo, die in der Nacht des Brands mit dem 5-jährigen Isaac und seinem 3-jährigen Bruder Luca aus dem 18. Stockwerk die Treppe hinunter stürmten, um ins Freie zu kommen. Isaac hielt die Hand eines Nachbarn fest, ging aber verloren im schwarzen Rauch und Gedränge des Treppenhauses. Er ist seither nirgendwo aufgetaucht.

Seine Mutter, Genet Shawo, will nicht glauben, dass ihr Kleiner im Gebäude umgekommen sein soll. "Ich will nicht das Schlimmste befürchten", sagte sie am Donnerstag einem örtlichen Reporter. "Ich hoffe und bete noch immer für ihn." Im Feuer habe der Junge ihr zugerufen, dass er nicht sterben wolle: "Ich bin zu allen Notzentren gerannt, in allen Krankenhäusern gewesen. Aber niemand weiß etwas von ihm."

Kirchen, karitative Verbände und spontan herbei geströmte Freiwillige im Viertel suchten die nach ihren Angehörigen Suchenden zu trösten und den Geretteten ein Dach überm Kopf zu verschaffen oder sie mit Kleidern und Lebensmitteln zu versorgen.

Der konservative Vorsitzende des Gemeinderats von Kensington und Chelsea, Nicolas Paget-Brown, wiederum fand lediglich Zeit für ein Interview mit der BBC, in dem er, mit dem Rücken zum brennenden Tower, seine Administration gegen den Vorwurf grober Verletzung der Bau-Aufsichtspflicht verteidigte.

Einer der Anwohner rief ihm empört zu: "Paget-Brown, du hast Blut an den Händen." Jede Menge Groll gegen Behörden und Politiker verschaffte sich am Donnerstag Luft, im Schatten des ausgebrannten Towers und der benachbarten Wohnblocks nahe der U-Bahn-Station Latimer Road. Der Zorn richtet sich zugleich gegen den für die Blocks zuständigen Verwaltungs-Konzern "Kensington and Chelsea Tenant Management Organisation" (KCTMO), der angeblich über Jahre hin Warnungen vor einem Brandrisiko ignoriert hatte.

Seit langem nämlich, klagen Mitglieder der Mieter-Selbsthilfe-Gruppe "Grenfell Action Group", habe die KCTMO wiederholte Klagen über Feuerrisiken "schlicht abgetan" und "nichts hören wollen von all dem". Dabei sei die Management-Organisation auf alle möglichen Gefahren hingewiesen worden - wie auf riskant platzierte Boiler, fehlende Sprinkler-Anlagen oder den Mangel an Notausgängen.

Ein ehemaliger Vorsitzender des Mieterbundes für Grenfell Tower, David Collins, wunderte sich denn auch kein bisschen über das Flammeninferno im Block. Collins, der bis Herbst 2016 dort gewohnt hatte, erwachte zur Nachricht von der Katastrophe mit dem Gedanken: "Ich war empört, ich war wütend, ich war entsetzt - aber überrascht war ich nicht. Wir alle wussten, dass es erst so eine Tragödie brauchen würde, bevor irgendjemand endlich irgendetwas tun würde hier."

Mittlerweile gilt das Augenmerk vor allem der Außenverkleidung des Blocks, die bei der neun Millionen Pfund teuren Renovierung vergangenen Sommer am Grenfell Tower angebracht wurde. Die zur besseren Isolation und zur Verschönerung des Gebäudes aufgesetzten Aluminium-Platten kommen mit einer zur Fassade hin gelegenen porösen Plastikschicht. Nach Ansicht von Bauexperten hat diese Schicht, gleichermaßen wie ein Belüftungsschacht oder eine Kaminöffnung, dem Feuer einen sofortigen Durchzug, eine rekordschnelle Verbreitung seitwärts und nach oben verschafft.

Mit diesem Effekt hatte man weder bei den Behörden noch bei der Feuerwehr gerechnet. Noch als die von den Flammen eingeschlossenen Bewohner der oberen Stockwerke in Panik die Rettungsdienste anriefen, wurde ihnen erklärt, sie sollten in ihren Wohnungen bleiben, ihre Türen verschlossen halten und Türspalten mit Tüchern gegen den Rauch abdichten. Die Gewalt des Feuers drückte bare mühelos Türen ein und füllte alle Räume mit Flammen. Die Wohnungen wurden zur Falle. Der erteilte Rat erwies sich als falsch.

Ein Bildsozialer Zustände

Britische Oppositionspolitiker sprachen am Donnerstag davon, mangelnde örtliche Kontrolle und nachlässige Sicherheitsvorschriften, Gefälligkeiten gegenüber Bauunternehmern und die Haushalts-Kürzungen der letzten Jahre hätten alle ihren Anteil an der Katastrophe gehabt. Der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn erklärte: "Wenn man den Kommunen nicht das Geld gibt, das sie brauchen, zahlt man einen hohen Preis in Form mangelnder Sicherheit überall im Lande." Sprinkler-Anlagen wären das Mindeste in einem solchen Block gewesen.

Premierministerin Theresa May inspizierte am Donnerstag den Schauplatz der Katastrophe und versprach eine "volle öffentliche Untersuchung". May zog sich aber Kritik dafür zu, dass sie keine Anwohner des Wohnblocks treffen wollte.

Viele Londoner konnten unterdessen nicht fassen, dass ausgerechnet in einem der reichsten Stadtviertel ganz Europas auf kommunalen Wohnraum angewiesene Bürger "im 21.Jahrhundert" zu einem solch schrecklichen Ende kommen mussten. "Das ist doch", kommentierte der "Guardian", "eine wirklich augenfällige Illustration für den tiefen Graben, der die Armen und die Reichen bei uns trennt, die nur ein paar Straßen weit von einander entfernt zu Hause sind."