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"Es gibt eine Atmosphäre des Verdachts"

Von Gerhard Lechner

Politik

Historiker Jaroslaw Hryzak über das Verhältnis seiner Heimat zu Polen seit der PiS-Machtübernahme.


"Wiener Zeitung": Herr Hryzak, der Krieg in der Ostukraine befindet sich bereits im dritten Jahr, und es ist kein Ende des Konflikts mit Russland in Sicht. Umso dringender bräuchte Kiew Freunde im Westen. In den vergangenen Jahren hat sich allerdings auch das Verhältnis zum wichtigsten Alliierten, zu Polen, abgekühlt. Was ist geschehen?

Jaroslaw Hryzak: In Warschau ist 2015 die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Jaroslaw Kaczynski an die Regierung gekommen. Seither hat sich in der polnischen Gesellschaft eine gewisse Xenophobie breitgemacht, die von der Regierung aufgegriffen und verstärkt wird. Die PiS-Regierung spricht vermehrt über jene Polen, die von Ukrainern in der Zeit des Zweiten Weltkrieges gedemütigt und getötet wurden. Das ist zwar historisch wahr, aber die Art, in der die PiS dieses sensible Thema aufgreift, schafft eine Atmosphäre des Verdachts, die man eigentlich für überwunden glaubte.

Vor einem Jahr kam der Film "Wolhynien" in die polnischen Kinos. Er behandelt auf ziemlich drastische Weise die an Polen verübten Massaker des Jahres 1943 in der heutigen Westukraine. Das hat bei vielen Polen die Ressentiments gegenüber den Ukrainern, die es vor allem im Grenzgebiet immer noch gibt, wieder verstärkt - obwohl gerade das nicht die Intention des Filmes war. In der Ukraine hatte der Film, obwohl er Polemik gegen Ukrainer vermied, Aufführungsverbot. Stecken Polen und Ukrainer immer noch in der Geschichte fest?

Die Aufführung des Films hätte zunächst gestattet werden sollen, man entschied sich aber im letzten Moment für ein Verbot - mit der Begründung, man könne, wenn der Film ausgestrahlt wird, die öffentliche Sicherheit nicht garantieren. Natürlich haben dennoch viele Ukrainer den Film gesehen, ich auch. Die Reaktionen in der Ukraine waren vorwiegend negativ. Viele empfanden "Wolhynien" als antiukrainisch. Ich teile diesen Standpunkt nicht. Der Film ist allerdings sehr provokant, einfach weil er ein historisch sensibles Thema auf sehr gewalttätige Art und Weise abhandelt. Er hat - entgegen seinen Intentionen - leider bewirkt, dass auf beiden Seiten verschüttet geglaubte antiukrainische und antipolnische Gefühle wieder hochkochten.

Kann das Kaczynski brauchen? Gerade er ist ja lange als Fürsprecher der Ukraine aufgetreten, noch als Oppositionspolitiker besuchte er demonstrativ den Maidan.

Kaczynski setzte sich während des Maidans tatsächlich sehr für die Ukraine ein. Deshalb hoffte man in Kiew auch, dass sich das sehr gute polnisch-ukrainische Verhältnis mit der Regierungsübernahme der PiS noch vertiefen wird. Leider ist das Gegenteil eingetreten.

Warum?

Weil Kaczynski, der ja sehr geschichtsbewusst ist, tatsächlich zu glauben scheint, dass die Nach-Maidan-Ukraine ihre Identität auf Stepan Bandera aufbaut.

Also auf jenen umstrittenen ukrainischen Nationalistenführer in den Dreißiger- und Vierzigerjahren, der für die Stimmung verantwortlich gemacht wird, die zu den Morden in der Westukraine führte.

Ja. Bandera ist für Kaczynski ein sensibles Thema. Aber es kommt noch etwas hinzu. Jaroslaw Kaczynski hegt bekanntlich starke Ressentiments gegenüber Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Er glaubt, dass sein Bruder, der frühere polnische Präsident Lech Kaczynski, 2010 in Smolensk von Putin getötet wurde. Er glaubt nicht an einen Unfall, sondern an ein Attentat. Laut der Lesart der PiS war der Grund für dieses Attentat, dass sich Lech Kaczynski anlässlich des Georgien-Krieges 2008 stark für Georgien, vor allem aber auch für die Ukraine eingesetzt hat. Deshalb, so denkt Jaroslaw Kaczynski, musste er sterben. Der Ex-Präsident hätte damit sein Leben für die Ukraine gegeben - und diese Ukraine dankt ihm das keineswegs, sondern errichtet Denkmäler ausgerechnet für Bandera, einem erklärten Gegner Polens. Für Kaczynski begeht Kiew damit Verrat an seinem verstorbenen Zwillingsbruder.

Aber spielt Bandera in der Nach-Maidan-Ukraine nicht tatsächlich eine tragende Rolle?

Ich würde sagen, eine sehr spezifische. Bandera ist die Figur, die die Ukraine am meisten spaltet. Er ist kein "nationaler Held" oder Ähnliches, er ist höchstens ein regionaler Held. Heldenstatus hat er nur im Westen der Ukraine, in Galizien und Wolhynien, in den Gegenden, die in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehörten. Schon in Transkarpatien und der Bukowina, also in anderen Teilen der Westukraine, ist er das nicht. Das kann man an den Meinungsumfragen gut ablesen, sieht man aber auch an den Straßennamen und den Monumenten, die errichtet werden. In der Liste der zehn populärsten Ukrainer erreicht er Platz zehn, liegt also hinter den großen Figuren des 19. Jahrhunderts wie etwa dem Dichter Taras Schewtschenko. Es würde das Land zerreißen, wenn die Ukraine die Identitätspolitik des Landes auf Bandera aufbaut. Manche versuchen das zwar, aber auch die ukrainische Politik ist in dieser Frage gespalten. Ex-Premier Arseni Jazenjuk vertritt beispielsweise den Pro-Bandera-Flügel, während Präsident Petro Poroschenko auf Distanz geht. Poroschenko hat sich auch in Warschau vor einem Denkmal für die durch Ukrainer ermordeten Polen hingekniet - ähnlich wie der deutsche Kanzler Willy Brandt 1970.

Spiegeln diese heiklen vergangenheitspolitischen Fragen, die auch heute noch für Zündstoff sorgen, nicht auch die Zerrissenheit des Landes wider?

Tatsächlich verfügt die Ukraine über keine einheitliche historische Erinnerung, wohl aber über viele Erinnerungen. Für das ukrainisch-nationale, ehemals österreichische Galizien ist Bandera eine positive Figur und sehr wichtig, für den russisch geprägten Osten nicht. Die Ukrainer, die heute in Polen studieren und arbeiten, kommen übrigens oft aus dem Osten der Ukraine. Sie werden absurderweise von manchen Polen als "Banderowcy", als Anhänger Banderas wahrgenommen - obwohl gerade sie mit Bandera wahrlich nichts anfangen können. Hier zeigt sich, dass im Umgang mit historischen Themen Mythen und Imaginationen derart dominieren, dass man die Wirklichkeit gar nicht mehr zur Kenntnis nimmt. Genau das passiert derzeit zwischen Polen und der Ukraine, und das ist sehr schade, denn die polnisch-ukrainische Versöhnung ist in meinen Augen die größte Errungenschaft in Osteuropa seit dem Fall des Kommunismus. In der Ukraine ist das Image Polens übrigens nach wie vor sehr positiv. Wenn man die Ukrainer nach einem Land fragt, dessen Weg man gerne einschlagen möchte, ist Polen in Umfragen immer an der Spitze, gefolgt von der EU als solcher und Weißrussland. Russland ist in den Rankings am Boden.

Wenn die Ukraine über so viele Identitäten verfügt - was vereint sie dann eigentlich noch?

Die wichtigste Figur, die die Ukraine heute vereint, ist der russische Präsident Wladimir Putin. Putin wird gehasst. Und das nicht deshalb, weil er ein Russe ist, sondern weil er den Krieg verkörpert. Wenn Sie die Ukraine geteilt erleben wollen, fangen Sie ein Gespräch über Bandera an. Wenn Sie eine geeinte Ukraine sehen wollen, sprechen Sie über Putin. Die Ukraine mag sprachlich und geschichtlich geteilt sein, aber wenn die politische Unabhängigkeit infrage gestellt wird, zeigt man sich einig.

Worin unterscheidet sich die Ukraine eigentlich von Russland?

Was Religion, Sprache und Kultur betrifft, sind Russland und die Ukraine nah verwandt. Worin man sich unterscheidet, ist die politische Kultur. Das betrifft vor allem das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft. In der Ukraine ist die Gesellschaft relativ stark, manchmal sogar stärker als der Staat. Autoritäre Anführer wie Lenin, Stalin oder auch Putin wären in Kiew so gut wie unmöglich. Die ukrainische Zivilgesellschaft ist stärker als die russische.

Warum?

Weil die Ukraine lange Zeit ein Teil Polen-Litauens war und somit Kontakt mit dem katholischen Westen hatte. Damit hat sie eine Tradition unabhängiger Institutionen. So gab es etwa demokratisch regierte Städte. Diese Tradition war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts sehr stark. Auch die orthodoxe Kirche der Ukraine, die in Konkurrenz zur katholischen Kirche stand, hatte sich unter deren Druck zu modernisieren. Sie begann, Schulen und Akademien zu errichten. Es war diese westliche Herausforderung, die viele Ukrainer später dazu befähigt hat, im Russischen Reich schnell aufzusteigen, Karriere zu machen und wiederum Russland zu modernisieren. Im 18. Jahrhundert bestand die Hälfte der russischen kulturellen Elite aus Ukrainern, so genannten "Kleinrussen". Es ist also dieser lange Kontakt mit westlichen Ideen und Institutionen, der die Ukraine hauptsächlich von Russland unterscheidet - wobei Kontakt auch Konfrontation bedeuten kann. In dieser Konfrontation hat sich eine spezifische ukrainische Identität herausgebildet, sozusagen eine "verwestlicht-orthodoxe" Identität.

Wissen: stepan bandera

Stepan Bandera (1909 bis 1959) war ein prominenter ukrainischer nationalistischer Politiker und Partisanenführer. Die Einordnung von Banderas Wirken und seiner Person ist in der heutigen Ukraine sehr umstritten. Im stärker russisch geprägten Osten des Landes, aber auch in Polen, Russland und Israel gilt er überwiegend als Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher. Im national orientierten Westen der Ukraine, aus dem Bandera auch stammte, wird er hingegen von vielen als Nationalheld und Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine verehrt. Bandera kämpfte in der Zwischenkriegszeit hauptsächlich gegen Polen, das in seinen ukrainisch besiedelten Gebieten eine Polonisierungspolitik betrieb. Später wandte er sich gegen die Sowjetunion. Zu den deutschen Nationalsozialisten hatte er, der zeitweise im KZ Sachsenhausen inhaftiert war, eine ambivalente Haltung. Bandera wurde 1959 in München von einem Agenten des sowjetischen KGB ermordet.

Jaroslaw Hryzak (57) gilt als einer der bedeutendsten Historiker der Ukraine. Der Lemberger hat mehrere Standardwerke über sein Land verfasst.