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Unter Reformdruck

Von Martyna Czarnowska aus Brüssel

Politik

EU-Ratspräsident drängt Staats- und Regierungschefs der Union zu schnelleren Entscheidungen.


Brüssel. Stärke durch Gemeinsamkeit: Dem immer wieder bemühten Schlagwort will EU-Ratspräsident Donald Tusk Taten folgen lassen. Geht es nach ihm, sollten künftig Entscheidungen schneller fallen und umgesetzt werden. Dafür will der Pole die Staats- und Regierungschefs der EU verstärkt in die Pflicht nehmen: Diese sollen schwierige Themen selbst beraten und dann direkt die Lösungsansätze bestimmen. Vor den Sitzungen, die dann wohl öfter stattfinden würden als bisher, will Tusk "Entscheidungshinweise" vorlegen.

Diese Vorschläge, zusammengefasst in einer "Führungsagenda", präsentierte Tusk den Spitzenpolitikern bei ihrem Gipfeltreffen in Brüssel. Und danach freute er sich über die breite Unterstützung für seine Pläne. Alle Mitgliedstaaten wollen das Vorhaben weiter verfolgen, berichtete der Ratspräsident.

Das bedeutet freilich nicht, dass die Agenda so umgesetzt wird, wie Tusk es sich vorstellt. Denn die Meinungen über die Richtung der Reformen, die in der EU notwendig sind, gehen auseinander. Frankreich etwa will einen Schwerpunkt bei der Stärkung der Eurozone setzen, während Länder, die nicht der Währungsgemeinschaft angehören, befürchten, aus dem Kreis der entscheidenden Mitglieder rauszufallen. Andere Staaten wiederum finden das in Paris vorgegebene Tempo problematisch. So bat die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel schon um Geduld: In Berlin müsste nach den Wahlen erst einmal eine Koalition gebildet werden, und die Leitlinien seien mit den Bündnispartnern abzustimmen.

Eine ähnliche Situation gibt es auch in Wien. Die wird in Brüssel ebenfalls beobachtet. Denn die Möglichkeit einer Regierungszusammenarbeit zwischen ÖVP und FPÖ nährt so manche Sorge, dass das künftige Kabinett bei einigen EU-Entscheidungen nationalpopulistischer agiert als bisher.

Agenda für Österreich

Aus Tusks Sicht aber ändern alle innenpolitischen Überlegungen nichts an den gemeinsamen Herausforderungen, denen sich die EU stellen muss. Dazu zählt der Ratspräsident die Migrationskrise, innere Sicherheit, Handel sowie die Finanzierung der Union. Gerade die ersten beiden Bereiche könnten besonders Österreich beschäftigen, das im Juli 2018 für ein halbes Jahr den EU-Vorsitz übernimmt. Zwei Monate danach, im September, soll nach den Vorschlägen Tusks ein Sondergipfel in Wien stattfinden. Dort sollen sich die Staats- und Regierungschefs mit dem Thema innere Sicherheit befassen. Im Mittelpunkt der Beratungen sollen dabei Grenzkontrollen, Informationsaustausch zwischen den Behörden, Maßnahmen gegen Cyber-Kriminalität und gegen Radikalisierung stehen.

Auch etliche Aspekte der Migration befinden sich noch auf der Agenda der EU. Denn bei ihrem Treffen in Brüssel kamen die Staats- und Regierungschefs über eine Bestandsaufnahme nicht hinaus. So muss die EU-Kommission weiterhin darauf drängen, dass die Mitgliedstaaten Geld für den vereinbarten EU-Afrika-Fonds zur Verfügung stellen. Auf die Notwendigkeit effizienter Rückführungen wird im Gipfel-Schlussdokument einmal mehr verwiesen - und eine Reform des Asylsystems erneut eingemahnt.

Denn die sogenannte Dublin-Regelung, wonach Asylanträge in jenem EU-Land zu bearbeiten sind, in dem Migranten zuerst angekommen sind, ist während der Flüchtlingskrise ausgesetzt gewesen. Doch eine Reform der Vorschläge gestaltet sich schwierig. Im Dezember wollen die EU-Spitzenpolitiker nochmals darüber beraten; eine Einigung ist für kommendes Jahr angestrebt. In der aktuellen Gipfel-Erklärung ist lediglich von einer Annäherung die Rede, "mit der ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Verantwortlichkeit und Solidarität erreicht wird".

London in der Warteschleife

Wenig Konkretes bringen ebenfalls die Schlussfolgerungen zum Brexit-Prozedere. Zwar begrüßt die EU die Fortschritte in der Debatte um die Rechte der Millionen EU-Bürger, die in Großbritannien leben und arbeiten. Doch stellt sie gleichzeitig fest, dass es noch keine feste Zusage des Königreichs zur Begleichung der finanziellen Verpflichtungen gegeben habe. Daher könne die zweite Phase der Verhandlungen, jene über die künftigen Handelsbeziehungen zwischen den beiden Partnern, nicht eingeleitet werden.

So musste die britische Premierministerin Theresa May trotz einer diplomatischen Offensive im Vorfeld des EU-Gipfels und einiger Versprechen an die auf der Insel wohnenden EU-Bürger aus Brüssel abreisen, ohne einen Erfolg erzielt zu haben. Erst beim nächsten Spitzentreffen im Dezember könnte über das Verhältnis zwischen der Union und dem Königreich nach dessen Austritt gesprochen werden. "Aber das hängt von Fortschritten Großbritanniens bei verschiedenen Themen ab", schränkte Kanzlerin Merkel ein.

Das Geld ist einer der Knackpunkte. Dabei seien die Partner "nicht einmal halb fertig", befand der französische Staatspräsident Emmanuel Macron. Fix ist noch nicht einmal die Summe, die London an die EU überweisen müsste. In Brüssel kursieren Schätzungen, die sich auf bis zu 60 Milliarden Euro belaufen. Auf Fragen nach ihrer Einschätzung dazu wollte May beim Gipfel gar nicht eingehen.