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"Europas Chancen? 40:60"

Von Thomas Seifert

Politik

Der deutsche Politikwissenschafter Claus Leggewie über völkische Nationalisten, die EU und China.


"Wiener Zeitung": In ihrem jüngsten Buch "Europa zuerst" erwähnen sie das Beispiel Österreich, als nämlich in diesem Land ein FPÖ-Präsidentschaftskandidat verhindert und stattdessen ein Grüner Staatschef geworden ist. Nun sieht es so aus, als würde die FPÖ in Zukunft mitregieren.

Claus Leggewie: Als Piefke sollte man sich eigentlich zu Österreich nicht äußern, auch wenn man in eine österreichische Familie eingeheiratet hat. Aber nur soviel: Die Bundespräsidentenwahl war von mir in meinem Buch "Europa zuerst!" nicht als der Umschwung identifiziert worden, sondern als eine Perle auf einer Kette, die immer stärker werdenden Einflüsse der völkisch-autoritären Nationalisten abzubremsen. Das ging knapp genug aus. Aber es hätte in die Pläne der völkischen Nationalisten gepasst, die vom Wahlsieg Donald Trumps und dem Brexit ausgehend auf einer Triumphwelle reiten wollten. Die geplanten Schaumkronen dieser Welle: eine siegreich geschlagene Präsidentschaftswahl in Österreich; ein Wahlsieg für Geert Wilders in den Niederlanden; schließlich der Tsunami eines Wahlsiegs für Marine Le Pen in den französischen Präsidentschaftswahlen; und dann noch die AfD in Deutschland. Angesichts all dieser Entwicklungen habe ich damals gesagt, dass Europa auf der Kippe steht. Und ich habe auch davor gewarnt, sich darauf zu verlassen, dass irgendwie schon alles irgendwie gut wird, weil man das von Krisen in Europa eben so gewohnt ist. Ich würde sagen, die Chancen stehen 60:40, dass Europa scheitert. Ich halte es für ein absolutes Desaster, dass die AfD nun mit fast einer Hundertschaft von Abgeordneten im Bundestag sitzt, das ist ein absoluter Tabubruch für die Bundesrepublik.

Wie lautet Ihre These zum Aufstieg der völkischen Nationalisten, wie sie sie nennen? Wie lässt er sich begründen?

Die sogenannten Populisten haben es geschafft, eine Art pervertierten, verschobenen Klassenkampf zu inszenieren. Die Wut über das massenhafte Managerversagen, über überhöhte Boni und steigende soziale Nöte und Ungerechtigkeit wird von diesen gegen Flüchtlinge und Fremde abgelenkt. Ich vergleiche das immer mit dem Spruch, der immer dem deutschen Sozialdemokraten August Bebel zugeschrieben wird, nämlich dass der "Antisemitismus der Sozialismus des dummen Kerls" sei. Tatsächlich stammt dieses Zitat übrigens vom österreichischen Politiker Ferdinand Kronawetter. Nun ist eben der Islam das Feindbild.

In Abwandlung eines Brecht-Zitats: Krieg den Hütten und nicht den Palästen?

Genau. Krieg den Hütten, insbesondere den Flüchtlingsunterkünften. Was die völkischen Nationalisten da auftischen, ist eine Mischung aus dummdreister Rhetorik bei gleichzeitiger vollständiger Unfähigkeit, einen klaren politischen Gedanken zu fassen. Die intellektuelle Basis dieser ganzen ethnonationalistischen Inszenierung ist – gelinde gesagt – recht schmal. Was in dieser Phase aber dazukommt, ist der Niedergang der Sozialdemokratie. Diese frei werdenden Räume wollen die Rechten nutzen.

Welche Gründe sehen Sie für diese Entwicklung?

Die Sozialdemokraten sind – wie der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte – "zu stark dem Zeitgeist gefolgt". Damit meinte er den Kurs von Gerhard Schröder oder Tony Blair. Die Sozialdemokraten haben dem Neoliberalismus nichts entgegengesetzt. Heute vertritt die Sozialdemokratie die besserverdienenden und angestellten Modernisierungsgewinner. Der große Liberale Ralf Dahrendorf hat bereits Ende der 1980er vom Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts gesprochen. Seine These: Das Gleichheitsversprechen der Sozialdemokraten zieht nicht mehr, aber liberale Freiheitsversprechen finden immer mehr Anhänger.

Haben die Sozialdemokraten in Europa, aber auch die Demokraten in den USA kulturelle Fragen und Identitätsfragen unterschätzt?

Die Linke unterschätzt kulturelle Fragen nicht, sondern sie überschätzt sie. Der US-Intellektuelle Richard Rorty hat in den 1990ern ein Buch geschrieben: "Achieving Our Country". Rortys Position: Wenn man einen positiven Patriotismus begründen will, dann müssen die kulturellen Differenzen überwunden – und nicht gestärkt werden. Zuerst war der wichtigste Hauptwiderspruch die Klassenfrage, danach entwickelte sich ein ganzes Bouquet von Hauptwidersprüchen. Die Nouvelle Droite, die neue Rechte, hat wiederum die Rechte der Völker oder der Regionen ins Zentrum gerückt. Für diese Leute sind Fragen der Identität absolut dominierend. Worum es nun aber geht, ist, den identitären Wahn – so möchte ich es bezeichnen – wieder zurückzudrängen, sonst droht das Verderben. Das geht aber nur, indem man wieder beginnt, die soziale Frage zu thematisieren. Mir scheint zum Beispiel die Wohnungsfrage ganz zentral. Denn wir sehen in allen Wahlgängen, dass die Kluft zwischen Stadt und Land immer tiefer wird. Ein zweiter wichtiger Punkt: die Rehabilitierung des Öffentlichen. Es gehört zum Markenzeichen der Rechten, öffentliche Dienstleistungen zu desavouieren. Aber ohne öffentlichen Dienst zerfällt die Gesellschaft noch mehr, als sie das ohnehin schon tut. Was man noch tun muss, ist, eine Strukturpolitik zu machen, die diesen Namen verdient. Und das bedeutet auch, dass man den Menschen Arbeit gibt. Dass man in Zukunft über Dinge wie ein bedingungsloses Grundeinkommen reden muss, versteht sich für mich von selbst.

Wie beurteilen sie die politische Lage in Deutschland nach der Wahl?

Meine Leitlinie für die Jamaika-Verhandlungen nenne ich ein Programm verantwortungsvoller Bürgerlichkeit. Die SPD und die Linken sind in Opposition, die extremen Rechten der AfD sitzen mit 94 Sitzen im Bundestag. Der Bürgerblock der Mitte aus CDU und FDP muss also ein Programm der verantwortungsvollen Bürgerlichkeit umsetzen. Ich hoffe auf die Umsetzung von Infrastrukturprojekten und auf eine Öffnung der nationalstaatlichen Politik für Europa. Man muss die europäische Gesellschaft in den Blick nehmen und Außenpolitik als Welt-Innenpolitik begreifen und gewissermaßen aus dem Auswärtigen Amt in Deutschland ein Ministerium für globale Entwicklung machen. Denn wir sollten allmählich begreifen, dass wir uns nicht in unser gemütliches Deutschland oder Österreich zurückziehen und einfach die Tür hinter uns absperren können.

Die Liste der autokratischen Führungsfiguren wird immer länger, der Ausblick für die Welt scheint düster. Sind sie eigentlich froh, dass Sie in den 1960ern jung waren und nicht jetzt?

Am besten schreiben Sie das so auf: "Herr Leggewie spontan: Ja! (lacht). Herr Leggewie berichtigt sich aber sogleich. Herr Leggewie hat nämlich eine Tochter und Enkel und ist deswegen überhaupt nicht froh. Und deshalb versucht Herr Leggewie – wenn auch ohne transhumanistische Therapie – so alt zu werden wie nur irgendwie möglich, und Herr Leggewie wird, wie er sagt, seinen kämpferischen Geist nicht aufgeben."

Es umwölkt sie also Sorge?

Unbedingt. Ich habe 2016 das Buch "Anti-Europäer - Breivik, Dugin, al-Suri & Co." fertiggestellt. Uns muss eines klar sein: Europa hat viele Feinde. Europa ist pazifistisch bis in die Knochen. Aber uns muss bewusst sein, dass wir von Feinden umzingelt sind, die Europa ans Leder wollen. Die Autokraten, die uns schlaflose Nächte bereiten – Russlands Präsident Wladimir Putin oder der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan – wollen unseren Untergang. Selbst US-Präsident Donald Trump macht nicht unbedingt den Eindruck, als liege ihm das Wohl des europäischen Kontinents besonders am Herzen. Etwas anderes ist es mit dem chinesischen Präsidenten: Xi Jinping strebt an, dass das Reich der Mitte wieder zu einer führenden Weltmacht wird und die USA eines Tages als wichtigste Supermacht beerbt. Um das zu erreichen, versucht China Europa als Bündnispartner zu gewinnen. Das war schon in der Zeit von Mao ein erklärtes Ziel. Für Europa ist das durchaus eine Chance, denn mit Putins Russland kann Europa zumindest auf absehbare Zeit nicht konstruktiv zusammenarbeiten. China ist derzeit ein moderierender Faktor im sich zuspitzenden Nordkorea-Konflikt, China hat erklärt, zum Klima-Abkommen zu stehen, und tritt – wie Europa – für den Freihandel ein. Da macht China zwar nicht, weil das Reich der Mitte in Europa verliebt ist, sondern aus Eigennutz. Aber viele europäische Interessen decken sich mit jenen Chinas – daher wird es wohl zu einer weiteren Annäherung kommen.