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Kleine Schritte aus der Krise

Von Gerhard Lechner aus Lemberg

Politik

Das Schlimmste scheint für die Ukraine überstanden, die Wirtschaft erholt sich wieder.


Lemberg. Herrscht in diesem Land wirklich Krieg? Sicher, ab und zu sieht man ein Plakat mit Männern in Camouflage-Uniform und patriotischen Slogans. Und an den Souvenierständen der mittelalterlichen Innenstadt werden Klopapierrollen mit dem Konterfei Wladimir Putins, des verhassten russischen Präsidenten, verkauft. Aber sonst scheint an diesem goldenen Herbsttag im westukrainischen Lviv, dem früher habsburgischen Lemberg, alles in bester Ordnung. Die Stadt pulsiert. Zwar sind es nur wenige Touristen, die die schmalen Gassen beleben. Zu kompliziert ist für viele wohl immer noch die Einreise in die Ukraine. Zu lange dauern die Grenzwartezeiten. Zu umständlich ist die kyrillische Schrift. Zu abschreckend sind die Nachrichten aus dem Kriegsland. Die Touristenströme, die sich über die galizische Schwesternstadt Krakau in Polen ergießen, bleiben in Lviv - zumindest noch - aus.

Leblose Tristesse kann man in der Studentenstadt deshalb freilich keine ausmachen: Die Straßen sind brechend voll mit jungen Leuten, die Lokale sind oft überfüllt. Das Treiben auf den Gassen erinnert an eine südländische Stadt. Neben alten Straßenbahnen und den typischen gelben "Marschrutki", den mit Menschen vollgepferchten Kleinbussen, bahnen sich auch moderne Mittelklassewägen den Weg übers immer noch holprige Kopfsteinpflaster. Dass im Osten desselben Landes geschossen wird, ist hier, unweit der polnischen Grenze, wo der Weg nach Wien viel kürzer ist als der nach Donezk, weit weg.

Manches scheint sich gebessert zu haben in der Ukraine nach dem beispiellosen Absturz, den das Land seit der Revolution des Euromaidan und dem Krieg in der Ostukraine 2014 hinter sich hat. Doch nicht genug, um die Wucht des Aufpralls, den das Land erlebt hat, wirklich zu kompensieren. 17 Prozent betrug die Rezession, als die Ukraine-Krise akut war, im Jahr 2015 gab es mehr als 40 Prozent Inflation. Ein Euro war vor der Maidan-Revolution zirka 10 ukrainische Grivna wert, jetzt lautet das Verhältnis 1:31. Die Ukraine erreicht heute nicht einmal das Niveau der Sowjetzeit. "Die Wirtschaftsleistung beträgt nur 70 Prozent vom BIP des Jahres 1990", sagt Vasily Astrov, Ukraine-Experte beim Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW), der "Wiener Zeitung". "Das ist eine echte Katastrophe." Damals war das Pro-Kopf-Einkommen der Ukraine noch ein wenig höher als das Polens. "Heute ist das Polens siebenmal höher als das der Ukraine", sagt Gerhard Bösch, der Vorsitzende der Raiffeisen Bank Aval, der ukrainischen Tochter der Raiffeisen Bank International (RBI).

Auch Bösch wurde von der Krise hart getroffen: "Pures Überlebensmanagement" sei die Zeit während der Krise 2014 gewesen, berichtet er in Lemberg. Die Zahl der Mitarbeiter der Bank musste er reduzieren, die Frage, ob man überhaupt im Land bleibt, wurde diskutiert. Viele Konkurrenten hätten in dieser Zeit das Handtuch geworfen, auch russische Staatsbanken zogen sich zurück.

Bösch blieb, ebenso wie andere österreichische Unternehmen wie die Uniqa-Versicherung oder die Grazer Wechselseitige (Grawe). "In einem Land wie der Ukraine ist es zwar nicht möglich, präzise zu planen", sagt Bösch. Aber: "Es geht immer weiter." Dass sich Konkurrenten zurückgezogen hätten, "hilft uns natürlich enorm."

Hochmoderne IT-Industrie

Denn seit 2016 hat sich die Wirtschaftslage im Land einigermaßen konsolidiert. Für heuer ist ein zartes Wirtschaftswachstum von knapp über zwei Prozent prognostiziert - noch kein Aufschwung, aber immerhin eine Erholung. Und es ist gerade die alte Kulturstadt Lemberg, die inmitten der Krise neue Akzente setzt: Als wichtigster Wirtschaftszweig in Lviv neben dem Tourismus gilt nämlich die IT-Industrie. Rund 70 solcher Firmen gibt es in der Stadt, hochmoderne Software-Anwendungen bis hin zu künstlicher Intelligenz werden entwickelt. Mit der Unterstützung der Stadt Lviv wurde ein eigener IT-Cluster gegründet. Die Verdienstmöglichkeiten im IT-Bereich sind vergleichsweise gut, auch wenn westliche Firmen ukrainische Spezialisten abwerben: Während der Krise 2014/15 gingen viele Entwickler weiter nach Polen oder Westeuropa. Dafür zogen viele ostukrainische Experten nach Lemberg. Korruption, das Krebsübel der Ukraine, sei im IT-Bereich geringer, wird versichert: Durch die internationale Vernetzung würden globale Standards gelten.

Standards, von denen die Politik des Landes noch weit entfernt ist. Mitte Oktober hatte die ukrainische Antikorruptionspolizei Generalleutnant Igor Pawlowski wegen mutmaßlicher Korruption festgenommen. Pawlowski, der sich im Kampf an der Front in der Ostukraine einen Namen gemacht hat, soll den Einkauf überteuerten Treibstoffs fürs Militär geduldet haben - zugunsten einer Präsident Poroschenko nahestehenden Firma. Der Fall warf ein grelles Schlaglicht auf die Zustände in der Verteidigungswirtschaft der Ukraine, die das "neue Klondike" im Land sein soll, wie die deutsche "FAZ" Insider zitierte. 45 Prozent der Rüstungskäufe unterliegen der Geheimhaltung und sind damit jeder Kontrolle entzogen. Ein Gesetz, mit dem die Parlamentsmehrheit mehr Transparenz im ukrainischen Verteidigungssektor sicherstellen wollte, hat Poroschenko verhindert. Zu Monatsbeginn wurde von der Antikorruptionspolizei dann noch der Sohn des mächtigen Innenministers Arsen Awakow verhaftet - möglicherweise allerdings deshalb, so wird vermutet, weil Poroschenko von Awakow ein schärferes Vorgehen gegen den georgischen Ex-Präsidenten Michail Saakaschwili verlangt hatte, den ehemaligen Gouverneur der Schwarzmeerstadt Odessa, der mit Poroschenko im Clinch liegt.

Kann nur EU-Beitritt helfen?

Dass sich aus der Ukraine Nachrichten über Korruptionsfälle häufen, muss kein schlechtes Signal sein. "Anders als nach der Orangen Revolution sitzen in vielen Ministerien jetzt auch Reformer", erklärt Bösch. Diese würden gegen die Arrivierten und die Oligarchen kämpfen. "Wenn deren Pläne gelingen, könnte die Ukraine in den nächsten Jahren die größte Überraschung in wirtschaftlicher Hinsicht werden", ist Bösch vorsichtig optimistisch.

Vasily Astrov zeigt sich da skeptischer. Nur die Perspektive eines EU-Beitritts würde in Kiew genügend Reformdruck erzeugen, um das Land auf einem Weg ähnlich dem Polens zu bringen. Das sei nicht realistisch. "Das Problem der Ukraine ist, dass sie zwischen den Stühlen steht", sagt der Wirtschaftsforscher. Das Land sei nicht Teil des russischen Wirtschaftsblocks, habe aber auch keine echte Chance auf einen EU-Beitritt. "Die Gefahr besteht, dass das Land in das Loch dazwischen fällt", resümiert Astrow.

Die Reise nach Lemberg kam mit Unterstützung des Instituts für Donauraum und Mitteleuropa (IDM) zustande.