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Kein Träumer?

Von Michael Schmölzer

Politik

Direktwahl eines Präsidenten, der Rat als zweite Parlamentskammer: Juncker will mit der EU hoch hinaus.


Brüssel/Wien. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker regelt seinen Nachlass. Im Mai 2019 finden EU-Parlamentswahlen statt, dann wird der Luxemburger seinen Hut nehmen.

Am Mittwoch präsentierte er in Brüssel seine Visionen von einer bürgernahen EU, in der Erfahrungen der Vergangenheit schrittweise weiterentwickelt werden sollen. "Ich bin kein Träumer", stellte Juncker in seiner mit Spannung erwarteten Rede fest - was er dann erzählte, klang aber doch utopisch. Anzustreben sei ein Zweikammernsystem auf europäischer Ebene, in dem der Rat der EU-Mitgliedsstaaten und das Europäische Parlament ähnlich zusammenarbeiten würden wie die Kammern vieler nationaler Parlamente. Der Präsident der EU-Kommission, vielleicht auch der Ratspräsident, könnten dann in einer direkten Wahl vom Bürger bestimmt werden.

Juncker, kein Träumer? Er sei nicht frei davon, beteuerte er und legte vor den versammelten Medienvertretern nach. Langfristig sei es sinnvoll, das Amt des EU-Kommissionspräsidenten mit dem des Ratspräsidenten zu fusionieren und damit einen EU-Präsidenten zu schaffen. Dass das vor dem Jahr 2019 "nicht zu machen ist", weiß dann der Realist Juncker: "Das wäre den Mitgliedsstaaten zu viel abverlangt".

Bestehendes System laut Juncker "gefährlich"

Das bestehende System, das einen EU-Kommissionspräsidenten und parallel dazu einen EU-Ratspräsidenten vorsieht, hält Jucker für gefährlich: Er habe ein gutes Verhältnis zu Donald Tusk, dieser sei "ein Freund". Aber sollte es in dieser Konstellation zu einem Konkurrenzverhältnis kommen, dann wäre das "ein Albtraum, und zwar für alle".

Bereits in seiner Grundsatzrede im Herbst hatte Juncker betont, dass er das komplizierte Geflecht aus EU-Institutionen und Ämtern transparenter machen wolle. In jedem Fall sollte es bei den Wahlen 2019 Spitzenkandidaten geben so wie beim EU-Votum 2014, als die Parteienfamilien im EU-Parlament jeweils einen Frontrunner aufstellten, wobei der Gewinner dann vom EU-Parlament und vom Rat abgesegnet wurde. Damals siegte Jucker über den zuletzt im deutschen Wahlkampf glücklosen Martin Schulz.

Die Zeiten, als die Mitgliedsländer einen ihnen genehmen Kandidaten alleine auserkoren, sind vorbei. Durch die Personalisierung des Wahlkampfes würde die EU bürgernäher und damit attraktiver, weiß Juncker. "Wenn die Menschen wählen, wollen sie wissen, wen." Er selbst habe sich 2014 als "Versuchskarnickel" zur Verfügung gestellt und sei in der Folge nicht immer mit Samthandschuhen angefasst worden. Doch habe sich der Versuch bewährt, es gehe nun darum, die positiven Erfahrungen zu verfestigen.

Deshalb sein Appell an die "EU-Parteienfamilien", ihre Spitzenkandidaten "möglichst früh" zu nominieren, damit diese auch genug Zeit hätten, ihre Standpunkte vor den EU-Bürgern zu vertreten. Auf jeden Fall sollte das noch vor Jahresende geschehen. Er selber habe 2014 "nur wenig Zeit" gehabt.

Der Europawahlkampf dürfe keinesfalls nationales Geplänkel bleiben, so Juncker. 2014 habe es europäische Wahlkampfdebatten gegeben, die in Österreich, Deutschland und Frankreich auch am Bildschirm zu verfolgen gewesen seien. Allerdings: "Niemand hat zugeschaut. Das muss sich ändern", fordert Juncker. "Europa muss im Zentrum der Debatten stehen."

Schließlich erteilte der 63-Jährige, jetzt ganz Realist, länderübergreifenden Wahllisten eine Absage. Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte das gefordert, allerdings wurde der Vorschlag vom EU-Parlament in der Vorwoche zurückgewiesen. Er sehe nun keine Möglichkeit, wie der Vorschlag für die Wahl 2019 noch umgesetzt werden könnte, so der EU-Kommissionspräsident.

Dann verwehrte er sich gegen den Vorwurf, Verfechter eines allmächtigen europäischen "Superstaates" zu sein. "Ich bin strikt dagegen, wir sind nicht die Vereinigten Staaten von Amerika. Das ist völliger Nonsens." Damit reagierte Juncker auf den britischen Außenminister Boris Johnson, der gemeint hatte, in Großbritannien wehre man sich gegen die Schaffung eines "allumfassenden europäischen Gesamtstaates". Der Brite warnte zudem in eindringlichen Worten vor einer Abkehr seines Landes vom Brexit. "Das wäre ein katastrophaler Fehler, der zu dauerhaften und unauslöschlichen Gefühlen des Verrats führen würde", wie es in einem vorab veröffentlichten Redetext heißt.

Schließlich zeigte sich Juncker optimistisch zu den Chancen auf die Bildung einer neuen Regierung in Deutschland. Nach dem "schwierig zu interpretierenden Wahlergebnis" bewege man sich nun "in eine Richtung, die sicherstellt, dass es demnächst eine handlungsfähige deutsche Bundesregierung geben wird".

150 Milliarden für Schutz der Außengrenze

Am Freitag kommender Woche wird es ebenfalls um die Zukunft gehen. Dann wollen die Staats- und Regierungschefs über die EU-Finanzplanung der Jahre 2021 bis 2027 reden. Die Entscheidung darüber ist eine der heikelsten, die auf die EU-Staaten zukommt. EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger meinte am Mittwoch, er rechne mit hohen Milliardenkosten für einen besseren Schutz der EU-Außengrenzen. Nach Berechnungen seiner Experten würde ein umfassendes EU-Grenzschutzsystem Investitionen in Höhe von 150 Milliarden Euro erfordern. Eine einfache Verbesserung des aktuellen Außengrenzschutzes schlägt demnach über einen Zeitraum von sieben Jahren mit 20 bis 25 Milliarden Euro zu Buche.

Die EU-Staaten müssen sich außerdem darüber einig werden, wie beziehungsweise ob sie die durch den Brexit entstehende Lücke im Gemeinschaftshaushalt stopfen wollen.

Diese ist enorm, sie wird bei 12 bis 14 Milliarden Euro pro Jahr liegen.