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Im Namen der Wahrheit

Von Martyna Czarnowska

Politik

Die Darstellung des Zweiten Weltkrieges beschäftigt die polnische Regierungspartei weiterhin - das sorgt im Vorfeld des Berlin-Besuchs von Premier Morawiecki für Aufregung.


Warschau/Berlin/Wien. Die Wahrheit: Das ist ein Begriff, den das polnische Kabinett derzeit sehr gerne verwendet. Vor allem wenn es um die "historische Wahrheit" aus Sicht der nationalkonservativen Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit) geht. Diese Sicht ist seit gut einer Woche in einen Gesetzestext gegossen, den der Staatspräsident auch schon unterzeichnet hat. Darin heißt es, dass weder das polnische Volk noch der polnische Staat für Nazi-Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges verantwortlich oder mitverantwortlich gemacht werden dürfen. Andernfalls drohen Geld- oder sogar Gefängnisstrafen.

"Wir müssen die Wahrheit über diese Zeit erzählen", betonen polnische Regierungspolitiker immer wieder. "Und Europa muss diese Wahrheit hören", wiederholte Ministerpräsident Mateusz Morawiecki in einem Interview mit der Zeitung "Die Welt", das am Vortag des Berlin-Besuchs des Premiers erschien. Morawiecki, der vor wenigen Wochen dieses Amt übernommen hatte, reist am heutigen Freitag nach Deutschland. Gesprächspunkte gäbe es genug: Die Verhandlungen über das mehrjährige EU-Budget laufen an; die Zusammenarbeit in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung soll gestärkt werden, und auch die umstrittenen Pläne zum Bau der deutsch-russischen Gasleitung Nordstream 2 werden wohl zur Sprache kommen.

"Antipolnisches melden"

Allerdings sorgte im Vorfeld ein anderes Thema für Aufregung: der Aufruf eines ranghohen Politikers an im Ausland lebende Polen, "antipolnische Äußerungen" den Behörden zu melden. Der deutsche Sender NDR berichtete darüber, doch ist das Schreiben von Senatsmarschall Stanislaw Karczewski, der der zweiten Parlamentskammer in Warschau vorsteht, bereits seit Tagen auf den Internetseiten von Botschaften zu finden. Karczewski hatte eine solche Maßnahme schon in der Vorwoche angekündigt.

"Bitte dokumentieren Sie antipolnische Anzeichen, uns verletzende Äußerungen sowie Meinungen und reagieren Sie darauf", schreibt der PiS-Politiker: "Informieren Sie unsere Botschaften, Konsulate und Honorarkonsulate über Verleumdungen, die den guten Ruf Polens beschädigen." Gleichzeitig ermuntert Karczewski Personen und Organisationen dazu, Seminare, Ausstellungen, Diskussionen zu veranstalten, die an die "historische Wahrheit" erinnern.

Hintergrund ist ein Kampf, den die polnische Diplomatie - auch unter vorangegangenen Regierungen - schon seit Jahren führt. Denn immer wieder taucht vor allem in englischsprachigen Publikationen der Begriff "polnische Konzentrationslager" auf, was suggeriert, dass etwa Auschwitz vom NS-Regime nicht nur auf polnischem Boden gebaut, sondern auch von Polen betrieben wurde. Daher forderten polnische Behörden und Politiker immer wieder Klarstellungen: dass die Gaskammern des Zweiten Weltkrieges von Deutschen errichtet und in Betrieb gehalten wurden; dass während der Okkupation sechs Millionen Polen umgekommen sind, davon drei Millionen polnische Juden.

Die Bemühungen um eine korrekte Darstellung flossen in den vor kurzem beschlossenen Gesetzestext. Jedoch ist dort von der Bezeichnung "polnische Lager", die ein Delikt sein könnte, keine Rede. Vielmehr wird eben festgehalten, dass die polnische Nation für die NS-Taten nicht mitverantwortlich gemacht werden dürfe. Das führte nicht nur zu Protesten aus Israel, wo neue Hürden für die Holocaust-Forschung geortet werden. Auch in Polen weckte die Regelung Sorgen, dass die Freiheit von Historikern sowie Kunstschaffenden beschnitten werden könnte.

Sehr wohl hat es nämlich während der deutschen Besatzungszeit von Polen begangene Verbrechen gegeben, vom Verrat jüdischer Nachbarn an die Deutschen bis hin zu Pogromen, bei denen ganze jüdische Dorfgemeinschaften vertrieben oder ermordet wurden. Gleichzeitig haben andere Polen Juden versteckt und gerettet - worauf in dem Land damals die Todesstrafe stand.

Den zweiten Aspekt betonen das polnische Kabinett und ihm nahestehende Medien wie das Staatsfernsehen. Kritiker aber befürchten, dass darüber hinaus gehende Darstellungen künftig strafbar sind. Sie weisen darauf hin, dass das Gesetz eine Version der Geschichte fixiert - und diese von der Regierungspartei als einzig wahre festgelegt wird.

Nun soll das polnische Verfassungstribunal über die Neuregelung befinden. An der Spitze des Gerichtshofs steht mittlerweile eine Richterin, deren Bestellung höchst umstritten war. Forciert hatte diese die regierende Fraktion PiS.