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Fragiler Frieden

Von Michael Ortner aus Prishtina

Politik

Selbst 19 Jahre nach dem Krieg müssen Nato-Soldaten noch ein serbisch-orthodoxes Kloster in Kosovo bewachen. Die Mönche fürchten sich vor Anschlägen radikaler Islamisten.


Prishtina. Das Leben im Kloster ist kein leichtes. Mönch zu sein erfordert Verzicht. Man ist ein Leben lang gebunden. Trotzdem hat sich Pater Petar vor 16 Jahren entschieden, in das Kloster Deçan einzutreten. Es liegt umgeben von den Ausläufern des Prokletija-Gebirges im Osten des Kosovo. Der Pater drückt die schwere Holztür zur Klosterkirche auf und geht über Marmorplatten, die früher mit Gold verziert waren. Er entzündet Kerzen, zieht sie an Leinen hoch. Hunderte Fresken werden auf den 700 Jahre alten Kirchenmauern erleuchtet. Täglich bereitet der Mönch so die Abendmesse vor. "In der Balkan-Region gibt es nicht viele Klöster, die so gut erhalten sind. Die meisten wurden zerstört oder in Moscheen umgewandelt", sagt er. Seine Worte hallen in der Kirche nach.

Das Leben im Kloster ist kein sicheres. Stets werden die 20 Mönche beschützt. Am Haupteingang zum Kloster steht ein grünes Wachhaus mit Tarnnetz. Nato-Soldaten kontrollieren jeden Besucher. Rund um die Uhr. Ins Kloster darf nur, wer seinen Ausweis abgibt. Mönche, die von Soldaten bewacht werden. Das ist hier Klosteralltag. "Wir haben uns an die Bedingungen gewöhnt", sagt Pater Petar. Nach dem Ende des Kosovo-Krieges hat die Nato serbisch-orthodoxe Klöster unter militärischen Schutz gestellt. Der Grund: Viele Klöster stehen bereits seit dem Mittelalter – Deçan wurde 1335 fertiggestellt – auf dem Gebiet des heutigen Kosovo. Die Heiligtümer sind aber stark mit Serbien verbunden. Die ethnischen Differenzen mit Albanern führten in der Vergangenheit immer wieder zu Angriffen.

Weltkulturerbe, von Granaten beschossen

In den vergangenen Jahren hat sich die Lage an manchen Orten entspannt. Das Patriarchenkloster Peć und das Kloster in Gračanica hat die Nato schon an die kosovarische Polizei übergeben. In Deçan hingegen ist die Sicherheitslage immer noch nicht stabil. Die Unesco führt das Kloster auf der roten Liste des gefährdeten Weltkulturerbes. Es ist das letzte unter der Obhut der Nato. Nur einen Katzensprung entfernt liegt "Camp Sparta". Italienische und österreichische Soldaten sind dort stationiert, um schnell vor Ort zu sein. Doch selbst unter dem Schutz des Verteidigungsbündnisses wurde das Kloster Ziel von Anschlägen. 2004 wurde es von Granatwerfern beschossen. Im selben Jahr wurden bei schweren Ausschreitungen 35 serbische Klöster in Kosovo zerstört. 2008 verfehlte eine Granate nur knapp ihr Ziel. Sie schlug in die Klostermauer ein. Erst 2012 wurde das Kloster mit EU-Geldern und finanzieller Hilfe aus Serbien renoviert.

"Kein anderer christlicher Ort in Kosovo wurde häufiger angegriffen", sagt Abt Sava Janitsch, das geistliche Oberhaupt in Deçan. Er trägt schwarze Ordenstracht und einen schwarzen gekräuselten Bart. Trotz der angespannten Lage strahlt er Ruhe aus. Wie fühlt es sich an, wenn man permanent Soldaten um sich herum hat? "Die Soldaten sind unumgänglich für uns, denn ohne die Präsenz der Kfor ("Kosovo Force", Anmerk.) könnten wir nicht überleben." In den vergangenen zehn Jahren haben sich die Umstände für die Mönche etwas gebessert. Von 1999 bis 2008 konnten die Geistlichen nur mit einer Militäreskorte das Kloster verlassen. Heute können sie sich viel freier bewegen. Zum Einkaufen nach Peć oder in die Hauptstadt Prishtina. Die nahe gelegene Stadt Deçan bleibt allerdings ein Tabu. "Der Ort ist nicht sicher für uns. Wenn wir auf unserem Land arbeiten, werden wir von der Straße aus provoziert", sagt Pater Petar. Die Beschimpfungen kommen hauptsächlich von jungen Albanern, die nie das Kloster besucht haben. Während des Krieges 1999 hat das Kloster 200 albanische Flüchtlinge versorgt. "Keiner von ihnen kommt uns besuchen", sagt Abt Sava. "Sie trauen sich nicht ins Kloster, aus Sorge, was andere Albaner über sie denken könnten." Die Angst, als Kollaborateure abgestempelt zu werden, ist groß.

Wunden des Krieges

Das Zusammenleben der Konfessionen war vor dem Krieg entspannter. Sowohl orthodoxe Serben, als auch muslimische und katholische Albaner suchten das Kloster auf. "Wir hatten viele muslimische Pilger, die mit kranken Familienangehörigen kamen", erzählt der Abt. Denn manchen Reliquien in der Klosterkirche wird eine Heilkraft zugesprochen. Heute würden allerdings kaum noch Muslime kommen. Und selbst für orthodoxe Serben ist der Besuch des Klosters mit enormen Strapazen verbunden.

Für Snežana Nikolić ist es ein großes Glück, hier zu sein. "Die Reise ist nicht sicher für mich, besonders wenn man nachts reisen muss", sagt sie. Sie ist zur Abendmesse gekommen. Mystische orthodoxe Gesänge erfüllen die Kirche. Besucher von außerhalb sieht man an diesem Abend kaum. Die Serbin schafft es selbst nur drei bis vier Mal im Jahr nach Deçan. "Sie müssen immer jemand haben, der sich traut, sie durch die Gegend zu fahren." Das Leben sei schwer für sie, denn viele Serben sind weggegangen. Der Krieg hat Wunden bei ihr hinterlassen. "Mein sechsjähriger Sohn wurde von Albanern erschossen. Mein Haus wurde niedergebrannt", sagt sie. Danach wurde sie aus ihrem Heimatort vertrieben. Ein Schicksal, das mehr als 200.000 Serben mit ihr teilen. Heute leben noch rund 100.000 Serben in Kosovo – rund fünf Prozent der Bevölkerung.

Nato-Camp mit Skihüttenflair

Zurück zum Eingang des Klosters. Ein grüner Bundesheer-Jeep mit weißen "Kfor"-Schriftzug biegt auf den Parkplatz ein. Alexandra Baumgartner steigt aus. Die 25-jährige Kärntnerin ist heute auf Patrouille unterwegs. "Wir zeigen Präsenz, damit sich die Menschen hier sicher fühlen." Sie ist eine von insgesamt 440 Soldatinnen und Soldaten des Bundesheeres, die derzeit in Kosovo stationiert sind. Sie sollen die Region wieder aufbauen und den Frieden sichern. Österreich unterstützt die von einem UN-Mandat getragene Nato-Mission seit ihrem Beginn 1999. Gemeinsam mit ihren Kollegen fährt Baumgartner neuralgische Punkte ab, wie etwa das Patriarchat Peć, das rund eine halbe Stunde entfernt liegt. Bis vor zwei Jahren wurde das Kloster aus dem 14. Jahrhundert noch von Bundesheer-Soldaten bewacht. Diese Aufgabe übernehmen seither die lokalen Behörden. Das wird stichprobenartig überprüft. "Wir haben kontrolliert, ob es von der Polizei bewacht wird und im Kloster eine Runde gedreht."

Ihre Befehle bekommen sie und die anderen Soldaten aus dem Kfor-Hauptquartier in Prishtina. Ein Militärcamp, das auf den ersten Blick an einen alpinen Skiort erinnert. Nach zwei Sicherheitsschleusen steht man auf einer schneebedeckten Straße. Beide Seiten sind von Holzhütten gesäumt. Sie dienten früher als Kulisse. Denn das Hauptquartier ist auf dem Gelände eines ehemaligen Filmstudios errichtet. "Film City" heißt das Camp deshalb. 4500 Soldaten aus 28 Nationen leben hier wie in einer Kleinstadt zusammen. Ein Schmelztiegel, nationale Klischees inklusive. Deutschland hat einen Biergarten, die Iren gehen ins Irish Pub und die US-Amerikaner holen sich ihre Laibchen bei Burger King. Es gibt zahlreiche Geschäfte, ein Fitnesszentrum und eine Kirche.

Kein Vertrauen in die Polizei

Nahe der "Schönbrunn Avenue" liegt das Quartier der Österreicher. Herr über die österreichischen Soldaten ist Oberst Markus Prammer. Sein Containerbüro ist spartanisch ausgestattet. An der Wand hängen Portraits von Bundespräsident und Kaiser. Die Situation in Kosovo schätzt Prammer als "aktuell ruhig, aber nach wie vor instabil" ein. Im Gespräch fallen oft die Worte "Präsenz", "Stabilitätsfaktor" und "Sicherheitslage". Als Soldaten müssen sie für Frieden sorgen. Die Spannungen zwischen den Ethnien zu lösen, ist hingegen eine Aufgabe der Politik. Zu tun gebe es noch genug, sagt der Oberst. Der Kampf gegen die organisierte Kriminalität zum Beispiel. Doch die Nato dürfenicht gegen sie vorgehen. Denn das UN-Mandat deckt keine polizeilichen Aufgaben. Prammer verweist auf die lokalen Behörden, die dafür zuständig seien. "Die Polizei ist mittlerweile sehr gut entwickelt."

Abt Sava in Deçan sieht das anders. "Ich glaube nicht, dass sie in der Lage ist, das Kloster ordnungsgemäß zu schützen." Denn Polizei, Lokalpolitiker und das organisierte Verbrechen würden unter einer Decke stecken. "Die Polizei muss sich erst in eine unabhängige Institution verwandeln", sagt der Abt. Ihr Versagen belegt er mit einem Fall, der erst zwei Jahre zurückliegt. Vier Männer, bewaffnet mit Kalaschnikows, wurden von den Soldaten festgehalten. "Das Kalifat kommt" hatten sie an die Klostermauer gesprüht. Die Männer waren Sympathisanten des "Islamischen Staats". "Unsere Überwachungskamera hat alles aufgenommen", sagt der Abt, "doch die Polizei war nicht interessiert an dem Video." Zwei Tage nach dem Vorfall wurden die Männer freigelassen. Sie wurden wegen illegalen Waffenbesitzes angezeigt. Abt Sava hat kein Vertrauen. "Von Beginn an hat die kosovarische Polizei in keinem einzigen Fall, den wir angezeigt haben, erfolgreich ermittelt." Pater Petar sagt: "Es geht um das Bild des Kosovo in der Welt. Die Behörden wollen solche Nachrichten von der Öffentlichkeit fernhalten."

Die Frustration ist groß

Erst vor wenigen Wochen feierte Kosovo den 10. Jahrestag seiner Unabhängigkeit. Doch das Land ist krank. Die Korruption wuchert wie ein Krebsgeschwür. Dass die Rechtsstaatlichkeit immer wieder in Frage gestellt wird, wundert Florian Bieber nicht. "Einerseits ist die Kontrolle der Eliten, die nach dem Krieg nach oben gekommen ist, ungebrochen. Andererseits gibt es enge Verknüpfungen mit der organisierten Kriminalität", sagt der Südosteuropa-Experte von der Universität Graz. Das Erbe des Krieges wirkt nach, die Staatlichkeit hat noch keine Tradition. Speziell im Norden Kosovos sieht er "rechtsentleerte Räume", die Raum für Missbrauch bieten. "Es fehlt an staatlicher Durchsetzbarkeit", sagt Bieber.

Die Gefahr durch radikale Islamisten will Bieber nicht überbewerten. Laut Behördenangaben schlossen sich in den vergangenen Jahren rund 320 Kosovaren als Kämpfer dem "Islamischen Staat" in Syrien an. "Das ist im Endeffekt eine kleine Zahl in Relation zur muslimischen Gesamtbevölkerung in Kosovo. Wir wissen nicht, wie viele von ihnen ihren Aufenthalt in Syrien überlebt haben", sagt Bieber. Doch die Frustration im Land sei groß – besonders unter den jungen Menschen. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 30 Prozent, die Dunkelziffer wird viel größer geschätzt. Selbst mit einem Universitätsabschluss finden viele keinen Job. Tausende Kosovaren wandern aus. "Je länger die Perspektivlosigkeit andauert, desto größer ist die Gefahr der Radikalisierung", sagt der Kosovo-Experte.

Mit der Bedrohung arrangiert

Spitze Eiszapfen hängen vom Dach der Klosterkirche. Der Schnee liegt wie eine sanfte Decke über dem Kloster. Eine Idylle, die bedroht ist. 150 serbische Kirchen wurden seit dem Ende des Krieges in Kosovo zerstört. Heute gibt es noch rund 16 aktive Klöster. Was würde passieren, wenn die Kfor-Truppen eines Tages abziehen würden? "Unser Leben würde sehr viel schwieriger werden. Wir könnten uns im Falle einer Provokation nicht verteidigen", sagt Abt Sava. Extremisten sehen das Kloster auch in Zukunft als Anschlagsziel. Doch dass der Konflikt zwischen den Ethnien wieder aufflammt, hält der Historiker Bieber für ausgeschlossen. "Das ist kein realistisches Szenario. Die Nato-Truppen sind nur noch auf symbolischer Ebene vorhanden." Wann sie abziehen werden, ist ungewiss. "Das ist keine Frage der Zeit, sondern vom Zustand abhängig. Wenn wir feststellen, dass die Institutionen das Land selbstständig am Laufen halten, kann sich die Nato zurückziehen", sagt der italienische Kfor-Kommandant Salvatore Cuoci.

Die Abendmesse ist zu Ende. Die Besucher sind fort, der Geruch von Weihrauch ist geblieben. Pater Petar zieht die Leinen nach unten, löscht die Kerzen. "Als ich 2002 nach Deçan gekommen bin, wusste ich, dass es nicht sicher sein würde", sagt er. Er hat sich mit der Situation der ständigen Bedrohung arrangiert. Soldaten wurden zu Freunden. Das Kloster wurde zu seinem Zuhause.

Die Reise fand im Februar auf Einladung des österreichischen Bundesheeres statt.

Österreich ist seit 2. Juli 1999 Teil der Nato-Mission "Kosovo Force" (Kfor). Ziele der Mission sind der Wiederaufbau der Region und Infrastruktur sowie die Friedenssicherung. Derzeit sind rund 440 Soldatinnen und Soldaten aus Österreich (darunter sieben Frauen) in ganz Kosovo im Einsatz. Die Kfor-Truppen bestehen aus rund 4500 Soldaten aus 28 Ländern. Zu Beginn der Mission waren noch rund 55.000 Soldaten stationiert. Völkerrechtliche Grundlage ist ein Mandat der UN-Resolution 1244 sowie ein militärisch-technischen Übereinkommen zwischen der Nato und der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien und Serbien. Die Kfor-Mission sichert militärisch auch die EU-Rechtsstaatlichkeitsmission Eulex ab. Daneben sind auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und die Vereinten Nationen (Unmik) durch Missionen vertreten.

TV-Hinweis: "Zehn Jahre Kosovo: Auf der Suche nach Identität". ORF 2 widmet sich am Sonntag um 12:30 Uhr in der Sendung "Orientierung" dem Thema.