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"Nur die obersten 10 Prozent profitieren wirklich"

Von Gerhard Lechner

Politik

Die Ökonomin Charlotte Bartels sieht einen sich verbreiternden Graben zwischen Bürgern und wenigen Systemprofiteuren.


"Wiener Zeitung": Frau Bartels, Sie arbeiten im Team um den Ökonomen Thomas Piketty mit, das eine weltweite Datenbank für Ungleichheit (World Inequality Database) aufbaut. Sie kümmern sich in dem Projekt um Deutschland und haben jüngst eine Studie veröffentlicht, die dort Einkommensungleichheit historisch vergleicht. Zu welchen Schlüssen sind Sie da gelangt?

Charlotte Bartels: Wir haben festgestellt, dass der Einkommensanteil des im Jahr erwirtschafteten Nationaleinkommens, der an die obersten 10 Prozent der Bevölkerung geht, heute gleich hoch ist wie 1913 - nämlich 40 Prozent.

Jetzt könnte man argumentieren, dass sich seit 1913 nichts geändert hat und die Verhältnisse immer gleichgeblieben sind. War es so?

Nein. Es gab erhebliche Schwankungen.

Wie haben die ausgesehen?

Es gibt in der Kurve zwei radikale Einschnitte. Diese waren der Erste und der Zweite Weltkrieg. Nach dem Ersten Weltkrieg ist die Ungleichheit radikal gesunken, weil die Lohneinkommen sehr stark gestiegen sind. Die Gewerkschaften hatten in den 1920er Jahren eine sehr starke Machtposition. Gleichzeitig gab es eine Hyperinflation, was die Kapitaleinkünfte, die für die Elite ökonomisch relevant sind, deutlich reduziert hat. Mit der Machtübernahme der Nazis explodiert die Ungleichheit allerdings wieder, die Unternehmer profitieren überproportional.

Diese Erkenntnis mag für manche überraschend sein. Schließlich haben Historiker in den letzten Jahren und Jahrzehnten, angelehnt an das Buch "Hitlers Volksstaat" von Götz Aly, eher das sozialistische Element am Nationalsozialismus betont. Auch so manche sozialstaatliche Regelung, die heute noch gilt, geht ja auf damals zurück.

Unter Wirtschaftshistorikern herrscht Konsens, dass die Politik der Nazis sehr elitenfreundlich war. Unternehmenseinkommen explodieren in dieser Phase. Gleichzeitig aber wurden die Gewerkschaften aufgelöst und die Lohneinkommen stagnierten.

Und nach 1945?

Reduzieren sich die Spitzeneinkommen zunächst wieder, weil die deutsche Wirtschaft Zeit brauchte, um wieder in Fahrt zu kommen. Aber dann können die obersten ein Prozent der Bevölkerung - die Unternehmer - relativ schnell wieder ihren Einkommensanteil erhöhen, viel schneller übrigens als in Frankreich, den USA oder Großbritannien. Im internationalen Vergleich hat der Zweite Weltkrieg die Einkommensungleichheit in Deutschland überraschend wenig reduziert. Die USA überholen Deutschland erst in den 1980er Jahren, unter Präsident Ronald Reagan. Deutschland ist in dieser Gruppe in puncto Einkommenskonzentration in der Nachkriegszeit der Spitzenreiter.

Allgemein wird aber oft behauptet, die Ungleichheit sei in der Nachkriegszeit besonders niedrig gewesen.

Dieser Befund bezieht sich aber auf Befragungsdaten, die hauptsächlich Lohnempfänger abbilden. Und die Lohnverteilung war in der Nachkriegszeit ja tatsächlich gleicher. Die Unternehmenseinkommen, die der ökonomischen Elite zufließen, sind ja in diesen Befragungsdaten nur unzureichend abgebildet. Spitzenverdiener und Hochvermögende sind von Befragungsdaten systematisch untererfasst. So ist dieser Graben in der Einkommensverteilung in den Daten nicht aufgefallen. Meine Analyse basiert auf Einkommensteuerdaten, die die Gesamtheit der deutschen Steuerpflichtigen abbilden.

Blieb das ausgeglichene Verhältnis in der Lohnverteilung bis heute bestehen?

Nein. Seit den 1980er Jahren werden in Deutschland die Lohneinkommen ungleicher. Die hochqualifizierte Elite der Angestellten - also Anwälte, Ärzte oder Berater - hatte deutliche Einkommenszuwächse, die unteren 50 Prozent nicht. Diese Spreizung der Lohnverteilung trägt auch dazu bei, dass die Ungleichheit weiter steigt. Besonders seit der Wiedervereinigung verbreitert sich dieser Graben, weil seither sowohl die Unternehmereinkommen deutlich zunehmen, aber auch die Lohneinkommensverteilung sich mehr und mehr auffächert. Die untere Hälfte der Bevölkerung hat vom Wachstum der letzten Jahre offensichtlich nicht profitiert, während die oberen 10 Prozent deutliche Einkommenszuwächse verbuchen konnten.

Ist das wirklich so? Viele behaupten ja, dass die unteren Einkommen von einer ungleichen Gesellschaft mehr profitieren als von einer allzu gleichen, in der letztlich alle arm sind, wie in Venezuela zum Beispiel. Maggie Thatcher hat diese These ja ganz stark vertreten, dass es in einer ungleichen Gesellschaft auch die unteren Schichten mit vergleichsweise niedrigen Einkommen nach oben zieht.

Das stimmt einfach nicht. Man kann empirisch schlicht nicht nachweisen, dass der Fahrstuhl in den vergangenen Jahrzehnten für alle nach oben gefahren ist. Weltweit haben die obersten Einkommen viel mehr gewonnen als die unteren. In Deutschland ist der Niedriglohnsektor extrem gewachsen, die verfügbaren Haushaltseinkommen sind für einen bestimmten Teil der Bevölkerung sogar gesunken. Die oberen 10 Prozent der Bevölkerung hatten in den letzten zehn Jahren rasante Zuwächse. Ein wichtiger Faktor ist auch, dass der Anteil des Kapitaleinkommens an der Gesamtwirtschaft - also der Gewinne aus Unternehmensbesitz, Aktien oder Zinsen, all das, was man sozusagen ohne Arbeit erwirbt - weltweit wächst, in zahlreichen Ländern der Welt. Da stellt sich dann schon die Frage: Leben wir noch in einer Leistungsgesellschaft oder bewegen wir uns bereits hin zu einer Gesellschaft von Rentiers? In Deutschland hat man auf der einen Seite steigende Kapitaleinkommen, während auf der anderen Seite die Löhne für Niedrigverdiener nicht mehr ausreichen, zu sparen. Und die Politik fordert doch, dass die Menschen privat für ihre Rente sparen sollen, weil sie angesichts ihrer unterbrochenen Erwerbskarrieren gar nicht mehr genügend vom Staat bekommen werden. Privat sparen können aber nur die oberen Einkommensschichten.

Wenn nun die Schere, wie Sie es darstellen, so weit auseinandergeht und es nun noch wenige Superreiche gibt und der Rest verarmt, was bedeutet das für die Gesellschaft? Kommt es dann nicht irgendwann einmal zur Rebellion, ja zu einer Revolution?

Dieses Argument wird tatsächlich immer wieder vorgebracht. Der Historiker Jürgen Kocka zum Beispiel hat gesagt, dass die Revolution von 1918/19 in Deutschland auch eine Reaktion auf die Umverteilung von den Armen zu den Reichen während des Ersten Weltkrieges war - die deutsche Unternehmerelite hatte während des Krieges ja von der Aufrüstung stark profitiert. Es könnte natürlich auch dazu kommen, dass die Menschen apathisch werden, dass sie die Demokratie nicht mehr unterstützen und sich nicht mehr ehrenamtlich engagieren, weil sie denken, von dieser Gesellschaft habe ich sowieso nichts, dieses System arbeitet nur noch für die Reichen und nicht mehr für mich.

Wie kann man dieser Entwicklung entgegenwirken?

Die Einführung des Mindestlohns in Deutschland war ein Schritt in die richtige Richtung. Darüber hinaus müssen wir auch darüber nachdenken, wie die Arbeitnehmer auch von den Unternehmensgewinnen profitieren können.

Charlotte Bartels war auf Einladung der Arbeiterkammer in Wien.

Ungleichheit in Österreich

Eine Forschung wie die von Charlotte Bartels in Deutschland ist laut dem Wirtschaftswissenschafter Matthias Schnetzer in Österreich so nicht möglich. "Wir können hierzulande eine solche Studie über so einen langen Zeitraum nicht durchführen. Teils ist das Material nicht aufbereitet, teils in dieser Qualität nicht vorhanden", sagt der Ökonom, der bei der Arbeiterkammer in Wien über Einkommensentwicklung und -verteilung forscht. Vertrauenswürdige Ergebnisse würden in Österreich erst ab Mitte der 1970er Jahre vorliegen. "Qualitativ hochwertig sind die aber auch nur für bestimmte Einkommenssegmente, etwa die Lohneinkommen", so Schnetzer. Bei den Daten, die erfasst sind, gebe es aber eine starke Parallele zur Entwicklung in Deutschland. "Seit den 1980er Jahren steigt auch in Österreich die Ungleichheit, ab den 1990ern nimmt sie dramatisch zu", resümiert Schnetzer.