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"Demokratie ist nicht in der Muttermilch"

Von Daniel Bischof

Politik

Soziologe Kenan Güngör spricht über ambivalente Ergebnisse seiner Studie über muslimische Jugendliche.


Was halten junge Menschen mit Migrationshintergrund von Demokratie und Gleichberechtigung? Was sind die Gründe für eine ablehnende Haltung? Mit diesen Fragen beschäftigt sich ein neuer Forschungsbericht des Österreichischen Integrationsfonds. Befragt wurden 707 Personen zwischen 14 und 24 Jahren - darunter Menschen mit afghanischem, syrischem, tschetschenischem, kurdischem, türkischem und bosnischem sowie Menschen ohne Migrationshintergrund.

Durchgeführt wurde die Befragung von den Forschungsinstituten Sora und think.difference unter Leitung von Kenan Güngör. Die "Wiener Zeitung" sprach mit dem Integrationsexperten über die Ergebnisse.

"Wiener Zeitung": Herr Güngör, deuten die Ergebnisse in eine positive oder negative Richtung?

Kenan Güngör: Sie zeigen in beide Richtungen. Positiv ist: Abwertende Einstellungen haben, im Vergleich zu einer früheren Befragung, abgenommen. Die Zustimmung zur Demokratie und das Zugehörigkeitsgefühl zu Österreich ist hoch.

Wo geht es in die falsche Richtung?

Bei Befragten mit muslimischer Prägung ist Antisemitismus, Frauenhass und Homophobie deutlich stärker vertreten als bei Österreichern ohne Migrationshintergrund. Bei den Afghanen gibt es außerdem eine deutlich höhere Ablehnung der Demokratie als bei anderen Gruppen.

Was sind die Gründe dafür?

Wir reden meist nur über die Herkunft und Religion der Menschen: Doch die Ethnie oder die Religion allein erklärt nichts. Sie sind erst aussagefähig, wenn sie mit anderen Faktoren verknüpft werden. Mehr als 40 Prozent der afghanischen Befragten haben Gewalt in ihrer Familie erlebt. Sie sind oft in einer prekären Lebenslage und machen Diskriminierungserfahrungen. Außerdem sind sie oft in homogenen Freundeskreisen unterwegs: Wenn ich immer nur unter Meinesgleichen bin, lerne ich wenig von anderen Zugängen und Ansichten.

Welche Rolle spielt das Herkunftsland?

Es spielt eine wichtige, indirekte Rolle. Demokratie hat man nicht in der Muttermilch, sie muss erlernt werden. Wenn Menschen nun aus autoritären Ländern kommen, in einer prekären Situation leben und erst kurz hier sind, darf es nicht verwundern, wenn sie die Demokratie noch nicht akzeptieren. Je länger die Menschen aber hier leben, desto eher nimmt die Akzeptanz zu: Bei den Afghanen zeigt sich bereits eine ambivalente und differenzierte Situation.

Inwiefern?

50 Prozent sind für einen religiösen Führer, 50 Prozent dagegen. Einerseits gibt ein Großteil von ihnen an, dass Gewalt keine Probleme löst. Anderseits meint eine Mehrheit, dass sie zuschlagen dürfen, wenn ihre Ehre beleidigt wird. Kultur und Zivilisation geraten aneinander. Sie befinden sich in einem Spannungsverhältnis zwischen dem, was sie kannten und dem, was sie hier lernen.

Gehen wir zum Thema Antisemitismus über: Auffallend ist, dass sich auch ein Großteil der bosnischen Befragten antisemitisch äußerst.

Das hat uns sehr überrascht. Bosnier zeigen mit den Kurden sonst in nahezu allen Kategorien sehr tolerante Einstellungen, sie haben eine hohe Demokratietoleranz und einen höheren sozialen Status als andere Menschen mit Migrationshintergrund.

Woher kommt dann dieser bosnische Antisemitismus?

Ich vermute, dass er stark von der nicht aufgearbeiteten Geschichte Osteuropas geprägt ist. Antisemitismus ist dort weit verbreitet, in Ungarn arbeitet die Politik stark damit. Damit ist es wohl kein bosnisches Phänomen: Hätten wir Serben oder Kroaten befragt, wären wahrscheinlich ähnliche Ergebnisse herausgekommen.

Wo könnte der Staat ansetzen, um abwertende Einstellung aufzubrechen?

Die familiäre Sozialisation hat einen entscheidenden Einfluss auf abwertende Einstellungen. Je mehr Gewalt vorhanden ist, je autoritärere Einstellung vorherrschen, desto eher zeigen sich Abwertungen. Daher muss mit den Eltern gearbeitet werden, man muss an sie herankommen.

Wie soll das gelingen?

Mit niederschwelligen Formaten wie mehrsprachigen Elterncafés, wie wir sie zum Beispiel mit der Stadt Wien für die Schulen erarbeitet haben. Aber auch die Gemeinschaften selbst sind gefragt: Dort sollten die aufklärerischen und progressiven Richtungen gestärkt werden, damit da Dynamik hineinkommt.

Können Strafen helfen?

Dort, wo bei Eltern der Willen fehlt oder sie bewusst gegensteuern: Da kann man über Strafen nachdenken. Etwa dann, wenn sie ihre Töchter in ihrer Entfaltung oder Bildung stark einschränken. Hier gibt es aber schon Möglichkeiten, die man ausschöpfen sollte. Ich warne davor, vorschnell zu Strafen zu greifen. Oft sind Eltern mit ihren Kindern überfordert und wissen nicht, was sie mit ihnen tun sollen. Da wäre es falsch, den Eltern einfach die Familienbeihilfe zu kürzen.

Und was ist mit geflüchteten Jugendlichen, die keine Eltern mehr haben?

Das ist in der Tat ein Problem. Denn ohne familiäre Bindung fehlt diesen jungen Männern der soziale Halt - insbesondere, wenn sie in prekären Verhältnissen leben und keinen Anschluss finden. Daher wäre es wichtig, hier Bindungen und Vertrauen herzustellen. Hier haben all die engagierten Menschen, die den geflüchteten Menschen beim Ankommen und Zurechtfinden geholfen haben, eine unschätzbar wichtige Arbeit geleistet.