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Haben wir bei der Kontrolle der Regierung versagt?

Von Walter Hämmerle

Politik

Eine Corona-Zwischenbilanz zum Jahrestag der türkis-grünen Regierungsbildung aus Sicht der institutionellen Gegenmächte der Republik.


Nach dieser Pandemie gibt es viel aufzuarbeiten. Zwar hat das Gesundheitssystem - Stand Jahresende - diesen maximalen Belastungstest bestanden, aber die Zahl der Toten, insbesondere in Pflege- und Altenheimen, erschüttert. Warum konnten wir das nicht verhindern? Die am schwersten getroffenen Wirtschaftsbereiche werden Jahre für den Wiederaufbau benötigen. Hätte der Schaden auch kleiner ausfallen können?

Im Angesicht der Pandemie hat der Staat ein seit 1945 hierzulande nicht mehr gesehenes Gesicht gezeigt: Im Kampf gegen das Coronavirus hat er beispiellos tief in die Freiheitsrechte von Bürgern und Wirtschaft eingegriffen: Haben die Sicherungssysteme der liberalen Demokratie funktioniert, konnten wir uns auf intakte Mechanismen einer kritischen Öffentlichkeit verlassen, waren Opposition und unabhängige Medien ihren Aufgaben als Kontrolleure und Korrektiv gewachsen?

Regieren ist auch im Frieden und bei wachsendem Wohlstand eine ernste Sache, aber in unseren Breiten schon lange keine Frage mehr von Leben oder Tod. Stattdessen streiten die Parteien erbittert um kleinste Veränderungen am Status quo, deren größte immer noch in erster Linie Symbolpolitik für die eigenen Klientelgruppen sind. Am 16. März 2020 war es mit dieser Art des Regierens vorbei. Im Angesicht einer neuen und unbekannten Gefahr und unter dem Eindruck schockierender Bilder aus Norditalien und New York, wo die Totengräber ihrer Arbeit nicht mehr Herr wurden, verordnete die Regierung plötzlich den Ausnahmezustand. Wann, wenn nicht jetzt, zeigt sich, auf welchen Fundamenten die Republik fußt?

Der Schock dieses Moments erfasste die institutionellen Gegenmächte. Gegen ihre Gewohnheit stellten sie sich praktisch geschlossen hinter die Maßnahmen der Regierung. Die Ungewissheit mit Namen Sars-CoV-2 sorgte dafür, dass für einmal tatsächlich alle das Gefühl hatten, im selben Boot zu sitzen: Regierung, Opposition, Medien, Zivilgesellschaft. Endlich ein Schulterschluss.

Ein Schulterschuss steht nicht im Drehbuch

Das hat nur sehr vereinzelt für Unbehagen gesorgt, obwohl ein solcher Schulterschluss im Drehbuch einer liberalen Demokratie nicht vorgesehen ist. Allerdings verfügten zu diesem Zeitpunkt niemand über eine Handlungsanweisung für eine Pandemie, deren tatsächliche Gefahr noch weitgehend unklar war. Kritik, vor allem wenn sie alternative Optionen legitimieren will, muss sich auf Fakten stützen, wenn die Gesundheit und das wirtschaftliche Wohlergehen einer Gesellschaft auf dem Spiel zu stehen scheinen.

Doch solche Fakten waren zu Beginn Mangelware, auch unter den Experten musste sich erst ein Konsens entwickeln. In solchen Situationen neigt jede Regierung dazu, auf die sichere Karte zu setzen - und sei es, um später nicht für mögliche Fehler zur Verantwortung gezogen zu werden. Dieser erste Instinkt prägte auch das Handeln der Opposition.

Welches Verhalten verlangt aber eine solche Ausnahmesituation von der kritischen Öffentlichkeit, welches von den etablierten Medien, die sich ja ebenfalls in der Verantwortung für das Allgemeinwohl sehen? Wer hier in jedem Moment die richtige Antwort parat zu haben glaubt, ist zu beneiden. Oder dem ist zu misstrauen. Selbstzweifel sollte man aussprechen, nicht wegleugnen oder kleinreden.

War es also richtig, im März die Menschen zur Befolgung der Notfallmaßnahmen aufzurufen und der Regierung fast unbeschränkt Platz auf den eigenen Kanälen freizuräumen? Davon bin ich überzeugt. Hätten wir Medien darüber hinaus noch anderes, noch mehr tun sollen? Mit der Gewissheit des Rückblicks: Ja. Wir hätten die Maßnahmen besser einordnen, die Risikoeinschätzung breiter erklären können, über mögliche Folgen konstruktiv diskutieren können.

All dies ist im Verlauf der Pandemie von fast allen Medien geschehen, aber es hat zu lange gedauert. Auch, weil sich Redaktionen erst Wissen und Expertise aneignen mussten. Es ist deutlich leichter, parteipolitische Intrigen oder den x-ten Koalitionsstreit eloquent zu analysieren, als mit den Unwägbarkeiten einer Pandemie verantwortlich und aufklärend zugleich umzugehen.

Naives Verständnis von Wissenschaft

Rettung erwarten sich Politik wie Öffentlichkeit dabei von der Wissenschaft. Auf Experten zu vertrauen, ist richtig und naiv zu gleichen Teilen. Richtig, weil es einer globalen Gemeinschaft an Forschern in einem beispiellosen Akt der weltumspannenden Zusammenarbeit rekordverdächtig schnell gelungen ist, mehrere und - Stand heute - wirksame Impfstoffe zu entwickeln. Dass dabei auch Steuergeld en masse eine wesentliche Rolle spielt, sollte nicht völlig ausgeblendet werden.

Dagegen ist es naiv zu glauben, die Politik müsse lediglich den Empfehlungen der Wissenschaft folgen, um sicheren Fußes durch diese multiple Krise zu wandern. Darin liegt eine grobe Überforderung der Wissenschaften, zumal es eben nicht diese eine Wissenschaft gibt, sondern stets mehrere, die noch dazu die Pandemie aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Vor allem kommt darin aber ein Missverständnis darüber zum Ausdruck, was die Wissenschaften leisten können. Im Kern besteht Politik auch in einer Ausnahmesituation darin, zwischen widerstreitenden Interessen zu vermitteln. Hier gibt es keine wissenschaftliche Wahrheit.

Hinzu kommt, dass die Wissenschaft ihre Vermutungen über das neue Virus erst empirisch erhärten musste. Konsens im Umgang mit Corona gibt es bis heute nur in Teilbereichen - von den Bedingungen einer Infektion über den wirksamen Schutz bis hin zur Einschätzung von konkreten Maßnahmen für Zielgruppen und gesellschaftliche Teilbereiche wie Schulen, Wirtschaft und private wie öffentliche Räume. Manche Maßnahme, etwa der Umgang mit Schulen, ist bis heute umstritten, auch, weil andere legitime Interessen eine Rolle spielen.

Dass der anfängliche Mangel an system-immanentem Widerspruch, der unerlässlich ist, um eigene Vorhaben und Vorstellungen zu schärfen und notfalls zu adjustieren, mittlerweile behoben wurde, ist dem Rechtsstaat zu verdanken. Der Verfassungsgerichtshof zeigte dem Regierungshandeln wiederholt, wenngleich immer erst im Nachhinein, die Grenzen des Zulässigen auf.

Der Rechtsstaat funktioniert

Dass die Regierung dennoch hartnäckig Normen setzt, die sie nicht dürfen hätte, kann man natürlich als Versuch interpretieren, Freiheit und Demokratie durch die Hintertür abzuschaffen. Das sollte man nie ausschließen, nah an der Wirklichkeit sind solche Befürchtungen allerdings fast nie. Dafür zeigen die Höchstgerichte den dramatischen Qualitätsverlust im Normsetzungsverfahren der Ministerialbürokratie auf, dem auch das Parlament wenig entgegenzusetzen hat. So etwas geschieht nicht, wenn es die Regierenden der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit verhindern wollen.

Der Pandemie gelang es zudem, Überraschendes zutage zu fördern. Innen- und Finanzminister galten lange als die mächtigsten Kabinettsposten und die Aufsicht über das Justizministerium als Hebel für das Einwirken auf heikle Justizverfahren. Nur wenige hatten auf der Rechnung, dass in Wirklichkeit der Gesundheitsminister bei Bedarf ein ganzes Land in den Ausnahmezustand per Verordnung versetzen kann. Zumindest hier sorgt ein neues Gesetz für künftige Verbesserung.

Keinen Illusionen muss man sich dagegen über die Macht der Länder hingeben: Jeder zwischen Boden- und Neusiedler See weiß, dass effizientes Regieren nur mit den neun Bundesländern geht, nicht gegen sie - verwaltungsrechtlich und, fast noch wichtiger, (partei-)politisch. Das real existierende Krisenmanagement offenbarte einmal mehr, dass die Rädchen der Republik nicht so ineinandergreifen, wie sie sollten oder könnten, wenn sie denn wollten. Der Bundesstaat ist, neben den Gerichten, wohl die wirksamste Gegenmacht für jede Regierung, gleich welcher Konstellation. Geholfen hat es im Kampf gegen die Folgen von Sars-CoV-2 nur selten, geschadet schon häufiger.

Die Dummheit der Cloud

Als Erste zurück im Alltagsmodus war die Opposition. In Österreich heißt das, dass der Standort verlässlich den Standpunkt definiert. Seitdem regiert wieder der Generalverdacht, dass jede Partei jede Handlung mit einem politischen Drall zum eigenen Vorteil zu versehen versucht. Allein Pamela Rendi-Wagner, die nicht nur SPÖ-Vorsitzende, sondern auch Epidemiologin ist, ist es gelungen, dieser Versuchung zu widerstehen. Dafür ist spätestens seit Herbst die FPÖ wieder zurück in der Fundamentalopposition. Doch einen Unterschied machte, bisher jedenfalls, weder SPÖ noch FPÖ.

Es muss als Tragödie gewertet werden, dass eine Koalition informeller Gegenmacht sehr wohl ihre Schlagkraft unter Beweis stellte. Nur nicht zum allgemeinen Nutzen. Das Scheitern einer App zum digitalen Verfolgen von Infektionsketten und der Ampel zur Regionalisierung des Krisenmanagements ist nicht allein damit zu erklären, dass die Regierung diese beiden sinnvollen Instrumente "versemmelt" hat. In der Fähigkeit, Projekte zu zerreden, liegt die wohl mächtigste Gegenmacht in dieser Republik. Auch die Dummheit der Cloud will stets berücksichtigt werden.