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"Zur Schicksalsgemeinschaft zwangsverbunden"

Von Martin Tschiderer

Politik
Ein "absolutes Ungleichgewicht" zwischen Kanzler und Vizekanzler sieht Politikwissenschafter Peter Filzmaier.
© a pa/Roland Schlager

Am Neujahrstag 2020 präsentierte man die Einigung, am 7. Jänner war die Bundesregierung angelobt. Danach kam alles anders als erwartet. Eine Bilanz zum ersten Jahr Türkis-Grün.


Es ist ein Einstand, wie ihn sich keine Regierung wünschen kann. Genau sieben Wochen nach der Angelobung von Türkis-Grün werden die ersten Corona-Fälle in Österreich bekannt. Kurz darauf ist nichts mehr, wie es war. Und nichts mehr wie geplant. Statt sich in die Punkte des frisch ausverhandelten Regierungsprogramms einzuarbeiten, spielt die neue Koalition Krisenfeuerwehr: Gastro-, Handels- und Schulschließungen, Ausgangsbeschränkungen, Unternehmenshilfen. Mehr als 280 Verordnungen und Gesetze wurden bis dato in Zusammenhang mit der Corona-Krise erlassen.

Alle anderen Themen firmierten im ersten Jahr der türkis-grünen Bundesregierung unter ferner liefen. Das Paket gegen Hass im Netz. Das 1-2-3-Öffi-Ticket. Zuletzt das neue Hochschulgesetz. Alles keine Kleinigkeiten. Aber nach medialer Aufmerksamkeit rund um die jeweilige Präsentation verlagerte sich der Fokus stets schnell wieder auf ansteigende Infektionszahlen, die Auslegung von Ausgangsbeschränkungen oder die Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofs, der zahlreiche Corona-Erlässe im Nachhinein wieder kassierte. Einzig der Terror von Wien am 2. November machte der Beschäftigung mit der Pandemie für einige Wochen Konkurrenz. Mit dem scheibchenweisen Bekanntwerden massiver Ermittlungspannen im Vorfeld. Mit Razzien und PR-Razzien im Nachhall. Und zuletzt mit dem Beschluss des Anti-Terror-Pakets, bei dem die ÖVP den Grünen da und dort mit Abschwächungen entgegenkam, um es noch vor Weihnachten dingfest zu machen.

"Man ist natürlich zu einer Schicksalsgemeinschaft zwangsverbunden", sagt der Politologe Peter Filzmaier zur "Wiener Zeitung". "Und durch einen tragischen Anlass zur engen Zusammenarbeit verdammt." Die einst unbeantwortete Frage, was denn das "Vorzeigeprojekt" dieser Regierung - mehr Zweck- als Liebesheirat - sein könnte, habe die Pandemie von selbst beantwortet. Und auch alle möglichen Bruchstellen zwischen ÖVP und Grünen überlagert, sagt Filzmaier. Egal ob bei der Frage "Gebe ich mehr Geld für Wirtschaft oder Umwelt aus?", oder beim Flucht- und Migrationsthema.

"Regierung profitiert von Schwäche der Opposition"

Zu Beginn der Corona-Krise erreichte die Zustimmung zur Regierung in der Bevölkerung Höchstwerte. Während auch die Corona-Maßnahmen im Frühjahr noch weitgehend goutiert wurden, begann die Stimmung im Sommer zu kippen. Und spätestens im Herbst, als die Infektionszahlen wieder rapide anstiegen, war der Standpunkt, die Regierung habe "alles richtig gemacht", kaum noch mehrheitsfähig. Auf die Umfragewerte des Bundeskanzlers, wie auch jene von ÖVP und Grünen, hatte das aber interessanterweise kaum Auswirkungen. Sie blieben relativ konstant hoch.

"Der Datenbefund ist gespalten", sagt Filzmaier. Das Vertrauen in die Regierung selbst bewege sich in ähnlichen Dimensionen wie zu ihrem Antritt. Die Zustimmung zu ihrer Corona-Politik habe dagegen seit dem Frühjahr kontinuierlich abgenommen. Die Hypothese des Politologen für diesen scheinbaren Widerspruch? Halte jemand die Corona-Maßnahmen für zu weitreichend oder aber für zu wenig konsequent, glaube er nicht zwangsläufig, dass die Opposition das besser könnte. "Die Regierung profitiert von der Schwäche der Opposition", sagt Filzmaier. Dadurch würden die "Unlogiken in der Kommunikation" von Türkis-Grün wohl weniger schwer wiegen. Trotz des "Hin und Hers zwischen Angstpolitik, Adressieren der Eigenverantwortung und dann doch wieder Mahnen."

Das sieht auch die Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle so. Für die weiter hohen Zustimmungswerte zur Koalition hat sie aber auch noch eine andere Erklärung: "Eine Regierung, die Geld verteilt, wird nie scheitern." Regierende scheiterten, wenn es um Einsparungen und Verteilungskämpfe gehe. Das aktuelle Motto "Koste es, was es wolle" biete dementsprechend wenig Sprengstoff. Anders könnte das freilich aussehen, wenn es nach der Pandemie um die Gegenfinanzierung der Krise gehen wird.

Weniger Aufmerksamkeit für grüne Themen

Abseits der Corona-Politik blieb im Pandemiejahr nur wenig Raum für politische Gestaltung. Bei einigen Themen seien zudem vor allem Überschriften präsentiert worden, sagt Filzmaier: "Man denke an die Umweltmilliarden." Die kolportierten zwei Milliarden Euro mit grüner Handschrift waren nicht für ein Projekt, sondern für eine Summe von Umweltschutzmaßnahmen veranschlagt worden. "Sollte davon bereits etwas stattgefunden haben, hat man es vor der Öffentlichkeit gut verborgen", sagt der Politikwissenschafter. Ein weiteres grünes Kernprojekt, das Transparenzpaket, ist ebenfalls auf der Strecke geblieben. Ähnliches gilt für die Steuerreform, ein ÖVP-Kernstück. Da habe man zwar betont, manches vorzuziehen. In der öffentlichen Wahrnehmung seien aber nur Wirtschaftshilfen und Kurzarbeit übrig geblieben. Dass die Ressourcen für andere Themen beschränkt waren, ist für Filzmaier verständlich: "Man schafft es ja kaum, die Corona-Verordnungen zu schreiben."

Bei den dennoch durchgebrachten Themen abseits von Corona, dominiert nach Einschätzung des Politologen der sicherheitspolitische Bereich - und damit klar die Volkspartei. Die Überschrift "Anti-Terror-Paket" habe eine ÖVP-Tonalität. "Auch wenn jede österreichische Partei gegen Terror ist." Ein kleinerer türkiser Erfolg in jüngerer Zeit waren zudem die Änderungen im Hochschulgesetz. Die Dominanz der ÖVP in der öffentlichen Wahrnehmung gehe jedenfalls über das Verhältnis der Mandatsstärke von etwa drei zu eins hinaus, sagt Filzmaier.

Stainer-Hämmerle teilt diesen Eindruck nur bedingt. Dass die Grünen sich zu wenig durchsetzen würden, wie oft kritisiert, sieht sie "nicht wirklich". Deren Themen stünden vor allem medial weniger im Fokus. Das Paket gegen Hass im Netz und die Erhöhung der NoVA seien Beispiele dafür. Auf grüner Seite sei neben Gesundheitsminister Rudolf Anschober vor allem Justizministerin Alma Zadic herausgestochen, meint die Politologin. Im Justizbereich habe sie trotz Corona-Fokus einiges erreicht. Neben den Gesetzespaketen vor allem mehr Geld für die Justiz und nicht zuletzt die Teil-Entmachtung des bis dahin übermächtigen Sektionschefs Christian Pilnacek. Leonore Gewessler müsse indessen hoffen, dass "das nächste Jahr ihr Jahr ist". Rückte doch trotz Beschlusses des 1-2-3-Tickets als grünem Prestigeprojekt die Umwelt- und Verkehrspolitik stark in den Hintergrund.

Wer trägt die Kosten der Krise?

Als potenziell größte Stolpersteine für Türkis-Grün sieht Stainer-Hämmerle einerseits Moria und das Flucht-Migrationsthema. Andererseits die Sparpakete, die nach der Pandemie auf die Republik zukommen werden. Die Frage, welche Gruppen die gigantischen Krisenkosten zu welchem Anteil gegenfinanzieren sollen, wird Konfliktpotenzial für die Koalition bringen. Aktuell gebe es vor allem ein "absolutes Ungleichgewicht" zwischen ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz und dem grünen Vizekanzler Werner Kogler, sagt Filzmaier. Kurz lege sein Amt offensiv als Chefkommunikator der Regierung an, lasse Kogler nur pro forma Platz. Das merke man bei jeder Pressekonferenz: "Was immer Kogler sagt, die Wahrnehmung ist: Hätte er es nicht gesagt, wäre es auch die gleiche Pressekonferenz gewesen."

Das Koalitionsklima sorgte in den vergangenen Wochen immer wieder für Fragezeichen. Zuletzt auch durch von FPÖ-Chef Norbert Hofer gestreute und nicht ganz uneigennützige Gerüchte, wonach Türkis-Grün "am Ende" sei und die Freiheitlichen sich auf baldige Neuwahlen einstellten - oder die ÖVP überhaupt einen "fliegenden Wechsel" zu einer Koalition mit der SPÖ plane. Tatsächlich haben beide Regierungspartner aber keine wirklichen Alternativen, um die Koalition zu verlassen, sagt Stainer-Hämmerle. Die Grünen stünden noch unter dem Schock des Hinausfliegens aus dem Nationalrat 2017 und sitzen zudem zum ersten Mal überhaupt in einer Bundesregierung. "Würden sie nach einem Jahr sagen ‚es geht nicht mehr‘, wären sie für längere Zeit als Koalitionspartner disqualifiziert."

Auch die ÖVP habe nicht viel bessere Optionen. Schließlich hat Kurz schon je eine Koalition mit der SPÖ und mit der FPÖ beendet. Eine Mehrheit mit den Neos wäre auch nach Neuwahlen äußerst fraglich. Ohnehin sei aber zentral, wie gut die jeweiligen Parteispitzen miteinander könnten. Die Achse Kurz-Kogler habe sich da als funktional erwiesen. Eine Zusammenarbeit zwischen Kurz und Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger oder SPÖ-Obfrau Pamela Rendi-Wagner sei dagegen schwer vorstellbar. In einem Szenario würde Stainer-Hämmerle aber auch einen fliegenden ÖVP-Wechsel zur SPÖ nicht ausschließen: "Wenn Hans Peter Doskozil Parteichef würde."