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Erzbischof Lackner: "Leere muss nicht immer ein Abgrund sein"

Von Mathias Ziegler

Politik

Der Salzburger Erzbischof Franz Lackner, Vorsitzender der Bischofskonferenz, zieht Bilanz über ein Jahr Corona.


Seit 2013 ist Franz Lackner Erzbischof von Salzburg, im Vorjahr übernahm er mitten in der Corona-Krise den Vorsitz der Österreichischen Bischofskonferenz. Mit Krisen hat der 64-Jährige Erfahrung: Zwischen einer Elektrikerlehre und dem Eintritt in den Franziskanerorden, dessen österreichischer Provinzial er war, stehen in seinem Lebenslauf zwei Zypern-Einsätze als UN-Soldat. Im Interview erklärt er, warum die Kirche die Corona-Einschränkungen mitträgt, wie sie mit sinkenden Katholikenzahlen umgehen kann und was er persönlich aus der Pandemie für sich mitnimmt.

"Wiener Zeitung": Fürchten Sie sich vor einem Osterfest wie 2020?Franz Lackner: Nein, fürchten nicht. Es stimmt, Ostern 2020 war ein Schock. Das wichtigste Fest im christlichen Jahreskreis nur zu fünft zu feiern, war schmerzlich. Wir wussten ja zunächst vieles nicht, inzwischen haben wir deutlich mehr Wissen über den Virus und seine Verbreitung. Es war für die Gläubigen und auch die Priester ein großes Opfer, so abgeschottet feiern zu müssen - eine verlängerte Fastenzeit. In der Fastenzeit soll man sich ja zurücknehmen, nicht nur bei Lastern, sondern auch bei guten Dingen. In diesem Sinn war dieses Opfer nicht sinnlos für Gläubige, denke ich. Heuer werden wir Ostern wohl nicht noch einmal in so restriktiver Form feiern müssen. Wir haben ja jetzt Testungen, etablierte Abstandsregeln, FFP2-Masken, Desinfektionsmittel . . .

An der Basis wurde der Kirchenführung mangelnder Mut und zu stilles Fügen in die Lockdown-Vorgaben der Politik vorgeworfen.

Das kann ich so nicht stehen lassen. Als Kirche war uns bewusst, dass das Virus ernst zu nehmen ist. Die Katholikinnen und Katholiken haben ja auch ein Verantwortungsgefühl, und der Großteil der Gläubigen hat die Maßnahmen bereitwillig mitgetragen, wenngleich es schwergefallen ist. Wir sehen, dass die Zahlen seit Monaten nur sehr langsam hinuntergehen. Wiederholt haben wir mit Gesundheitsexperten gesprochen, noch mehr als mit Politikern, Virologen und Hygieniker eingeladen, Krisenstäbe eingerichtet, uns in der Bischofskonferenz viel öfter ausgetauscht als sonst, uns mit anderen Religionsgemeinschaften abgestimmt.

Daraus ist eine Einsicht entstanden, wie wir vorgehen - die Ergebnisse haben wir mit der Regierung abgestimmt. Es war nie von Verordnungen die Rede, und wir haben uns der Politik nicht gefügt, sondern aus eigenem Verständnis heraus, aus Freiheit - dafür wurde ich auch kritisiert - unsere Verantwortung wahrgenommen, was ohnehin schwer genug war. Ich glaube, die Religionsgemeinschaften haben einen wesentlichen Beitrag geleistet, die Pandemie im Rahmen zu halten. Sie hätte schlimmer sein können.

Hat die Kirche in den Lockdowns alle Möglichkeiten ausgeschöpft oder wäre da noch mehr gegangen?

Wir haben das Internet als neues Mittel einzusetzen gelernt. Die physische Präsenz ist aber natürlich durch nichts aufzuwiegen. Und ja, alles schaffen wir nie, natürlich könnte man es immer besser machen. Aber die Streaming-Gottesdienste waren ein Erfolg, da wurden sehr viele Gläubige erreicht. Es ist sehr viel Kreativität entstanden. Gerade in der ersten Phase haben wir gestaunt, was alles möglich ist. Auch die Bereitschaft zu helfen war groß. In Bezug auf die Heilige Messe ist das Prinzip der Stellvertretung für den Glauben sehr wichtig: Jesus hat stellvertretend für uns gelebt und ist für uns gestorben. Ich habe noch nie eine Messe für mich selbst gefeiert, ich feiere sie immer stellvertretend für andere. Im leeren Salzburger Dom stehe ich da für die vielen Menschen, die eine Sehnsucht haben, auch teilzunehmen am Gottesdienst.

Viele könnten jetzt merken, dass es ohne Messbesuch auch geht, und nach Corona nicht wiederkommen.

Ich glaube nicht an einen großen Einbruch. Wer regelmäßig in die Kirche gegangen ist - und sei es nur an den Festtagen -, wird sich das nicht in einem Jahr abgewöhnen. Es wird sicher eine Einschleifphase geben müssen, und wir werden uns sehr darum bemühen, dass die Menschen wieder in die Kirchen kommen.

Die Kirche verliert aber seit Jahrzehnten sukzessive Mitglieder. Ist dieser Trend noch umkehrbar oder wird sie damit leben müssen?

Dass gar nichts geht, dass man gar nichts tun kan, das glaube ich nicht. Ob man den Trend von heute auf morgen umkehren kann, weiß ich nicht. Ich glaube, die Kirche muss sich bemühen, glaubwürdig zu sein, dienend, bei den Menschen und für sie da zu sein, das Stellvertretende habe ich ja schon erwähnt. Sie muss ein Element sein, auf das man auch in Zukunft nicht verzichten kann. Im Corona-Jahr 2020 gab es weniger Kirchenaustritte als 2019.

Haben Sie eine Erklärung dafür?

So etwas ist immer schwierig auszumachen. Die Austrittszahlen waren jedenfalls schon 2019 recht hoch. Vielleicht spielt die Pandemie eine Rolle. Mir hat ein Mann gesagt, ihm sei das Spenden noch nie so leicht gefallen wie jetzt, in der Notzeit. Ich glaube, es ist eine neue Nachdenklichkeit entstanden. Vieles, was früher selbstverständlich war, geht jetzt einfach nicht. Der Glaube hat schon ein Sinnpotenzial auch und gerade in schwierigen Zeiten. Bei den Zahlen muss man auch einrechnen, dass die Geburten bei uns zurückgehen und der Zustrom großteils nicht-christlich ist.

Finanziell war 2020 wohl desaströs: Ohne öffentliche Messen sind auch die Kollekten weggebrochen.

Freilich tut das weh, auch wenn einiges wieder auf anderen Wegen durch Spenden hereinkommt. Aber die Kirche geht sehr treuhänderisch mit dem ihr anvertrauten Geld um. Mit schlechten Ernten muss man rechnen. Die Kirche geht nicht unter.

Was nehmen Sie für sich aus dem Corona-Jahr 2020 mit?

Vieles, was anfangs schwer war, ist mir leichter geworden. So wie es heißt: Das Wort Gottes schmeckt am Anfang bitter und wird dann süß. Als ich zum ersten Mal im Salzburger Dom, der ja ein paar tausend Menschen zu fassen vermag, alleine in den leeren Raum gepredigt habe, war ich innerlich tief erschüttert. Dann ist mir das biblische Bild eingefallen von den Frauen, die frühmorgens zum Grab gegangen sind - und es war leer: "Man hat uns den Herrn weggenommen, wo ist er?" Dieses Bild von den Frauen und der Auferstehung hat mir irgendwie die Schwere genommen, das Predigen ist mir nicht mehr so schwergefallen. Auch wenn ich jetzt Leere erlebe: Leere muss nicht immer nur ein Abgrund sein, sie kann auch ein Zeichen von etwas Neuem sein - Auferstehung, sage ich jetzt. Genau so möchte ich das Wort Gottes verkündigen.

Was mir noch positiv auffällt: In Salzburg wird jetzt auf der Straße mehr gegrüßt. Und vor allem: Ich hatte als Bischof nie den Eindruck, dass Gott uns verlassen hätte, das kann ich ehrlich sagen. Ganz im Gegenteil: Die Sehnsucht - und ich halte das für das wichtigste Wort des Glaubens - ist gewachsen. Negativ fällt mir schon auf, dass mit der Länge der Einschränkungen, so wichtig sie sind, doch eine große Ungeduld aufkommt und es auch Aggressionen gibt, auch bei Menschen, die sich als gläubig bezeichnen.

Der Lockdown bringt Einsamkeit mit sich - auch bei Seelsorgern?

Ich persönlich habe die Einsamkeit lieben gelernt. Durch die vielen abgesagten Termine und Reisen - ich reise sonst gern - sind Leerräume entstanden, die ich mitunter auch als positiv erlebt habe. Und der Lebensrhythmus, der Gebetsrhythmus war leichter möglich. Dass Priester und Ordensleute in der Pandemie vereinsamen, glaube ich nicht. Wo es schon spürbar wurde, das war bei den Alten und Kranken. Am Anfang war das sehr schwierig. Darum haben wir - bei Einhaltung aller Regeln - Wege gesucht, Kontakt zu halten. Aber ja, auch Priester brauchen Ansprechpartner: Ich habe jetzt, in der Pandemie, in meinem achten Jahr als Erzbischof von Salzburg, erstmals alle rund 250 Priester in der Erzdiözese angerufen! Das hat uns allen gutgetan. Freilich, unterm Strich bleibt etwas, was Mangel ist, aber ich glaube nicht, dass da gleich etwas verloren geht. Ich glaube, man lernt physische Treffen dann wieder neu schätzen.

Ein anderes aktuelles Thema ist die Asylpolitik. Täuscht der Eindruck, oder steht die Kirche da den Grünen näher als der eigentlich christlich-sozialen Volkspartei?

Wir versuchen die Äquidistanz zu halten, also nicht einer Partei näher zu stehen als einer anderen oder indirekt eine zu fördern. Uns ist das Mariazeller Manifest von 1952 über eine freie Kirche in einem freien Staat zu wertvoll, als dass wir das aufs Spiel setzen. Es gibt vielleicht so etwas, was der Heilige Papst Johannes Paul II. eine "Koalition der Werte" nannte: Gewisse Werte hat man mit dem einen oder anderen mehr gemeinsam, aber daraus kann kein wie immer geartetes parteipolitisches Vorgehen der Kirche entstehen, darauf lassen wir uns nicht ein.

Zum humanitären Bleiberecht habe ich bereits im Namen der Bischofskonferenz gesagt: Ich appelliere an alle Verantwortlichen, in einen Dialog mit der Zivilgesellschaft zu treten, um Lösungen zu finden, wie das Bleiberecht und die anderen für Härtefälle zur Verfügung stehenden rechtskonformen Möglichkeiten im Sinne der Menschlichkeit besser genutzt werden, ohne eine ungeregelte Zuwanderung anzuheizen. Wir sind mit allen Parteien im Gespräch, nicht nur mit einigen.

Wie sieht eine mehrheitsfähige Lösung aus Sicht der Kirche aus? Gibt es ein politisches Konzept, das Ihrem Ideal am nächsten kommt?

Wir verteilen keine Noten. Wir wissen es nicht besser als die, die dafür in der Verantwortung sind. Grundsätzlich möchte ich sagen: Der Glaube setzt eine funktionierende Rechtsstaatlichkeit voraus, er kann sie nicht schaffen. Das wollen wir auch nicht, sonst kämen wir in Richtung Gottesstaat, das lehnen wir ab, wir kennen die Geschichte ja. Ich möchte auch betonen, dass ich mich zu einem säkularen Staat bekenne, der den Menschenrechten verpflichtet ist. Allerdings hatte der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde mit seinem Diktum recht: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann."

Die besondere Rolle der Kirche ist hier, dass sie den Einzelnen mehr im Blick hat. Die Natur der Sache bringt mit sich, dass eine Gesetzlichkeit nie den Einzelnen in seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit ganz erreichen kann, in diesem Sinn wird jedes System irgendwie auch ungerecht sein. Für diesen Einzelnen tritt die Kirche ein, da wollen wir eine mahnende Stimme sein. Aber unser Werkzeug ist nicht eine theologische Opposition oder Demonstration, sondern der Dialog. Unsere Aufgabe ist es zu schauen: Wo sind Menschen trotz allen funktionierenden Systemen benachteiligt? Da sind auch unsere Organisationen wie die Caritas und unsere Pfarren dran, auf die Schwächsten aufmerksam zu machen; da wird ja vieles getan, gerade im Flüchtlingsbereich; in vielen Bereichen auch von der Regierung und den Landeshauptleuten, das muss man schon sagen.