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Döblings Multikulti-WG

Von Martin Tschiderer

Politik
Irmgard Ullrich mit ihrem Sohn Maximilian (l.) und dem afghanischen Mitbewohner Ehsan (M.). Die drei sind nur ein Teil der aktuell siebenköpfigen "WG" in den Hügeln Grinzings.
© WZ / Tatjana Sternisa

Das Image afghanischer Flüchtlinge ist schlecht. Familie Ullrich aus Wien nahm trotzdem sieben von ihnen bei sich auf.


Wer heute auf Besuch zur Familie Ullrich in die Hügel von Grinzing kommt, erlebt eine Idylle. Sattes Grün im Garten, Naturteich, vom großzügigen Wohnzimmer aus Blick auf die Stadt. Wer dagegen am 26. März 2017 im Haus der Familie Ullrich war, der erinnert sich an vieles, aber sicher nicht an eine Idylle. Im Morgengrauen läutete es an der Tür. Davor standen gut 20 Beamte der Wega, schwer bewaffnet, mit Sturmhauben und Helmen, den Rammbock zum Aufbrechen der Tür schon im Anschlag. Einsetzen mussten sie ihn nicht, die Tür machte jemand von innen auf, an der Schwelle zeigten die Polizisten der Sondereinheit einen Haftbefehl. Ein Teil der Beamten umstellte mit ihren Waffen das Haus, die anderen durchkämmten es, bis sie den gefunden hatten, wegen dem sie hier waren, und nahmen ihn mit.

"Die Grundlage dafür war mehr als fraglich", sagt Maximilian Ullrich und schaut dabei zu Ehsan Bathri, der am anderen Ende des Küchentisches sitzt. Ehsan wohnt schon seit acht Jahren bei der Familie Ullrich. Aber an jenem Morgen im März nahmen die Beamten der Wega ihn mit und brachten ihn ins Polizeianhaltezentrum an der Rossauer Lände, wo er drei Tage in Schubhaft verbrachte. Von dort sollte er abgeschoben werden. Geholt haben die Beamten ihn, weil der Asylantrag, den er 2011 nach seiner Flucht aus Afghanistan in Österreich gestellt hatte, ein Jahr später in erster Instanz abgelehnt wurde. Allerdings: Zum Zeitpunkt des Wega-Einsatzes, fünf Jahre danach, war das Verfahren offen. Denn der Negativbescheid wurde 2015 vom Bundesverwaltungsgericht zur neuerlichen Prüfung zurück verwiesen. "Ich glaube, die Polizei probiert das öfter so", sagt Maximilian Ullrich.

Um wenige Stunden der Abschiebung entgangen

Um ein Haar wäre Ehsan dann auch tatsächlich abgeschoben worden. Im Charter-Flugzeug mit etlichen anderen Afghanen. Aber die Familie Ullrich ging an die Öffentlichkeit, startete eine Petition, organisierte eine Demonstration vor dem Polizeianhaltezentrum, sogar der ORF war bei ihnen zu Hause zu Gast. Und tatsächlich: Der öffentliche Druck zeigte Wirkung. Wenige Stunden vor dem geplanten Abflug wurde Ehsan aus der Schubhaft entlassen - und konnte ins Heim der Familie Ullrich zurückkehren. Etliche andere Asylwerber wurden am nächsten Morgen zurück in ihre Heimat geflogen. Ehsan dagegen hat heute seinen Aufenthaltstitel als Asylberechtigter.

Mit emotionalen Aufs und Abs dieser Art haben Irmgard Ullrich und ihr Sohn Maximilian, die das geräumige Haus in der Wiener Villengegend gemeinsam bewohnen, schon einige Erfahrung. Denn in den vergangenen Jahren hatten sie stets mehrere Mitbewohner, in den stärksten Phasen bis zu sieben. Ehsan lebt seit 2013 in einem Zimmer bei den Ullrichs. Seit bald zwei Jahren tut das mit Habib auch noch ein weiterer afghanischer Asylberechtigter. Und: ein Syrer, ein Georgier und ein chinesisch-österreichischer Freund der Familie, den man in einer Lebenskrise aufnahm. Miete oder Verpflegungsgeld muss niemand von ihnen bezahlen. "Meine Kinder zahlen mir ja auch keine Miete", sagt Irmgard Ullrich. Dafür isst man oft gemeinsam, gekocht wird abwechselnd. "Wir freuen uns natürlich über die große kulinarische Bandbreite", sagt Maximilian. Und: Einen Preis müssen die internationalen Gäste doch zahlen: Fleisch kommt nicht durch die Eingangstür. Die Ullrichs sind ein vegetarischer Haushalt.

Abdullah aus Syrien und Ehsan aus Afghanistan.
© Tatjana Sternisa

Im Laufe der Jahre lebten insgesamt sieben Afghaninnen und Afghanen bei der Familie, vier von ihnen für mehrere Jahre. Und nicht nur deshalb kennen sich die Ullrichs inzwischen recht gut aus mit dem Land am Hindukusch. Ihre aktuellen Mitbewohner Ehsan und Habib haben beide Familienmitglieder in Afghanistan. Seit der Machtübernahme der Taliban telefonieren sie täglich mit ihnen. Aus Kabul und Herat bekommt Familie Ullrich die Nachrichten deshalb aus erster Hand.

"Nicht vorgehabt, ein Asylheim zu eröffnen"

Repräsentativ für die heimische Bevölkerung sind Irmgard und Maximilian Ullrich damit eher nicht. In einer Umfrage des Gallup-Instituts sprach sich kürzlich eine Mehrheit gegen die Evakuierung gefährdeter Personen aus Afghanistan aus. 68 Prozent waren dafür, Afghanen weiter in Afghanistans Nachbarländer abzuschieben. 38 Prozent befürworteten - trotz Taliban-Regimes - auch Rückführungen nach Afghanistan selbst. Das Image von Afghanen hat sich seit dem Mord an der 13-jährigen Leonie, in dem vier Afghanen tatverdächtig sind, weiter verschlechtert. Tatsächlich ragen afghanische Staatsbürger bei einigen Delikten der Kriminalitätsstatistik heraus. Vor allem im Boulevard werden aus den konkreten Fällen reißende Schlagzeilen. "Krone"-Postler Jeannée schrieb in seiner Kolumne kürzlich gar wörtlich von "Hindukusch-Gesindel".

Eine Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher will also - ganz so, wie auch die Kanzlerpartei nicht müde wird zu betonen - keine weiteren Afghanen ins eigene Land holen. Ins eigene Haus schon gar nicht. Was also bewegt eine gut situierte Familie in Döbling, gerade jenen so offen Quartier zu geben, vor denen sich andere so geschlossen fürchten? Die Antwort ist profaner, als man vielleicht denkt. "Begonnen hat es damit", sagt Maximilian Ullrich, "dass wir Freunde von meinem Bruder und mir bei uns wohnen ließen, die von ihren Eltern oder der Freundin rausgeschmissen wurden." Denn Platz war im Hause Ullrich genug. Irmgard Ullrichs Mann starb vor 25 Jahren, fortan lebte sie im Haus mit ihren beiden Söhnen. Und Schritt für Schritt kamen weitere Menschen, auch Asylwerber, hinzu, denen man Quartier gab. Gesucht hat man sie nie, es ergab sich von selbst. "Wir hatten nicht vor, hier ein Asylheim zu eröffnen", sagt Irmgard Ullrich lachend.

Entwickelt haben sich die offenen Türen im Hause Ullrich sicher auch ein wenig mit dem sozialen Engagement von Sohn Maximilian, der mit 17 einen Freiwilligeneinsatz in Kenia absolvierte und bald darauf den Spendenverein Make Me Smile International gründete. "Ich habe das Privileg, das einsetzen zu können, was mein Vater als sein Lebenswerk erarbeitet hat", sagt er. Denn der Vater baute ein florierendes Telekommunikationsunternehmen auf und verkaufte es fünf Jahre vor seinem Tod für gutes Geld.

Der Afghane Ehsan wohnt seit acht Jahren bei den Ullrichs.
© Tatjana Sternisa

Heute ist Maximilian 31 und nach wie vor Obmann seines Vereins. Und 13 Jahre nach der Gründung organisiert der Verein Entwicklungszusammenarbeit in Kenia, betreut dort mehr als 22.000 Kinder und Jugendliche, baute ein Krankenhaus, kooperiert mit der Austrian Development Agency und ist inzwischen auch in Kolumbien und dem Libanon tätig. Pläne, auch nach Afghanistan zu "expandieren" werden gerade geprüft.

Insgesamt 37 Menschen Quartier gegeben

Im Laufe der Jahre hat die Familie Ullrich 37 Menschen bei sich aufgenommen. Rund 20 davon blieben mehr als sechs Monate und nahmen intensiv am Familienleben teil. Darunter auch die sieben Afghaninnen und Afghanen. "Hauseinbrüche brauchen wir eher nicht mehr fürchten", sagt Ullrich. "Es ist ja immer jemand zu Hause." Schlagen den Ullrichs als Quartiergeber in der Nobelgegend Döblings, wo im Umkreis Luxusautos parken und an Gartenzäunen mit hohen Hecken Überwachungskameras das Geschehen beobachten, Ressentiments entgegen? "Unser Freundes- und Bekanntenkreis besteht aus Menschen, die ähnlich denken wie wir", sagt Irmgard Ulrich. In der Nachbarschaft kennt man sich ohnehin kaum. "Und wenn es heimlichen Rassismus gäbe", sagt sie, "dann würde man sich ohnehin nicht trauen, uns das ins Gesicht zu sagen".

Bei Irmgard Ullrich selbst jedenfalls ist es offenkundig kein "Helfersyndrom", das sie dazu bewogen hat, etliche Asylwerber und Asylberechtigte für Monate oder gar Jahre bei sich aufzunehmen. Im Gegenteil: "Es ist für mich selbst ein großes Geschenk", sagt sie. "Ich bin froh, dass ich mich durch meine Söhne schrittweise daran gewöhnt habe, immer volles Haus zu haben." Manche Alleinstehende in der Nachbarschaft würden allein in Häusern dieser Größe wohnen. "Viele von ihnen leiden an Einsamkeit und wurden während des Lockdowns depressiv", sagt Ullrich. "Bei uns zuhause war man auch während der Pandemie nie allein."