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Das ewige Leben der kalten Progression

Von Martina Madner und Simon Rosner

Politik

Die Tarifstufen werden nicht automatisch angepasst. Die Wirkung dürfte aber überschätzt werden.


Die kalte Progression ist eine Art fiskalischer Überlebenskünstler. Vor Wahlen wollen sie alle Parteien abschaffen, nach der Wahl dann verlässlich nur die Opposition, während Regierungen Steuerreformen präsentieren, die sie mit Superlativen versehen. Das bedingt, dass es die kalte Progression immer noch gibt und sie auch diesmal nicht abgeschafft worden ist.

Dabei hatte man dieses Vorhaben diesmal sogar noch aus dem Regierungsprogramm herauslesen können. Unter dem Begriff der kalten Progression haben sich ÖVP und Grüne auf eine "Prüfung einer adäquaten Anpassung der Grenzbeträge für die Progressionsstufen auf Basis der Inflation der Vorjahre unter Berücksichtigung der Verteilungseffekte" verständigt. Das heißt, einfacher formuliert, man wollte sich sehr wohl überlegen, die Bruttoverdienstgrenzen, die den einzelnen Steuertarifstufen zugrunde liegen, an die Inflation anzupassen. Das tat man nicht.

Das Prinzip bleibt also bestehen. Alle Einkommen zwischen 11.001 und 18.000 Euro pro Jahr, nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge, fallen in die erste Tarifstufe und werden seit September 2020 mit 20 Prozent (vorher: 25 Prozent) besteuert, die nächste Stufe mit nunmehr 30 Prozent endet für Einkommen mit 31.000 Euro. Diese Grenzwerte hat die Bundesregierung nicht verändert, und sie werden sich auch nicht in den kommenden Jahren verändern. Da aber Löhne steigen, rutschen Arbeitnehmer entweder mit einem Teil ihres Einkommens in eine höhere Steuerklasse, das ist dann individuell besonders unangenehm. Oder ein größerer Anteil als bisher wird höher besteuert. Auch das führt zu einem höheren Durchschnittssteuersatz. Das ist das Wirken der kalten Progression, die die Steuereinnahmen steigen lässt.

SPÖ will die kalte Progression abschaffen

"Wir haben die kalte Progression bei Steuerreformen immer den Lohn- und Einkommenssteuerzahlern zurückgegeben. Jetzt aber wird ein Teil für die Senkung der Körperschaftssteuer von Großkonzernen verwendet", sagt der SPÖ-Finanzsprecher. "Arbeit und Konsum finanzieren Unternehmenssteuersenkungen."

Konkret gehe es laut SPÖ-Berechnungen um 3,4 bis 3,6 Milliarden Euro, die alle unselbständig Beschäftigten im Vorjahr im Vergleich zur letzten großen Entlastung 2016 bezahlt haben. Nur ein Teil fließe nun wieder zurück, sagt die SPÖ, nämlich 2,4 Milliarden Euro durch den reduzierten Steuersätze der zweiten und dritten Tarifstufe. Mit dem Rest, 750 bis 780 Millionen Euro, finanziere die türkis-grüne Regierung die geringere Körperschaftssteuer: "Davon profitieren OMV, Shell, LKW Walter - ganz ohne jeglichen Klimaschutz", sagt SPÖ-Klimasprecherin Julia Herr. Krainer verweist darauf, dass die Abschaffung der kalten Progression seit 2017 im Programm der SPÖ stünde. Damals waren die Sozialdemokraten noch in der Regierung.

Reale Progressionbleibt unbeachtet

Auch die beiden Thinktanks Momentum Institut und Agenda Austria, wirtschaftspolitisch selten einer Meinung, schreiben in ihren Analysen zur Steuerreform, dass die kalte Progression seit der letzten großen Entlastung 2016 mehr Geld in die Staatskasse fließen ließ, als nun durch die Tarifsenkung wieder retour kommt.

Das bestreitet allerdings der Ökonom Peter Brandner von der Initiative "Wei[s]se Wirtschaft", der sich seit Jahren mit der kalten Progression auseinandersetzt. Er hält die Wirkung, die der kalten Progression zugeschriebenen wird, für überschätzt. Erstens werde in der Regel nicht unterschieden zwischen kalter und realer Progression. Liegt die Lohnanpassung über der Inflationsrate, steigt auch die Kaufkraft. Gemäß dem Prinzip der Leistungsfähigkeit sei es laut Brandner auch gerechtfertigt, dann in höhere Tarifstufen zu rutschen.

Zweitens sei die Annahme, dass alle Löhne steigen, in der Realität nicht zutreffend. Menschen gehen in Pension und erhalten dann weniger Einkommen; sie verlieren ihren Job; wechseln auf eine Teilzeitstelle; gehen in Karenz. Es gibt viele Gründe, warum Lohnerhöhungen nicht immer alle Arbeitnehmer treffen. Und diese zahlen dann nicht mehr Steuern. "Nicht jeder ist von der Progression, real oder kalt, betroffen", sagt Brandner.

Der Ökonom kommt in seinen Berechnungen, für die er die gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung heranzieht, auf rund 2 Milliarden Euro kalter Progression, und zwar insgesamt seit 2016. Der Unterschied ist relevant. Wenn nun die Steuerreform rund 2,4 Milliarden Euro an Entlastung bringt, sei die kalte Progression auch kumuliert rasch kompensiert - anders als Agenda Austria, Momentum Institut und SPÖ berechneten. "Das geht sich locker aus", sagt Brandner, der auch auf die Lohnsteuerquote verweist. Diese sei seit Jahren weitgehend konstant, das wäre sie aber nicht, so der Ökonom, hätte der Finanzminister so viel mehr eingenommen, als jetzt wieder zurückfließe.