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Demokratieforscher: "Wir erzeugen Märtyrer, wenn die Polizei mit Knüppeln auftritt"

Von Martin Tschiderer

Politik
Wolfgang Merkel ist Politikwissenschafter und Demokratieforscher am Wissenschaftszentrum Berlin.
© WZ / Thomas Seifert

Politikwissenschafter Wolfgang Merkel über die Corona-Proteste und die Effekte der Pandemie auf die Demokratie.


Am Samstag demonstrierten in Wien wieder rund 40.000 Menschen gegen die Corona-Maßnahmen. Tags darauf ritt FPÖ-Chef Herbert Kickl bei einer Kundgebung heftige Attacken gegen die Regierung, die "uns alle umprogrammieren" wolle. Politologe Merkel über politische Brandbeschleuniger, den Begriff der "Spaltung" und legitime Proteste, die von der extremen Rechten gekapert werden.

"Wiener Zeitung": Herr Merkel, in Österreich, in Deutschland, in weiten Teilen Europas gehen regelmäßig Zehntausende auf die Straße. Eine wachsende Zahl von ihnen sieht in den Regierenden ihren Feind. Was passiert hier?

Wolfgang Merkel: Wir erleben schon seit einigen Jahren eine Polarisierung in nahezu allen westeuropäischen Gesellschaften. Sie hat ökonomische, aber auch kulturelle Züge. Mit hinein mischt sich zunehmend eine Ablehnung des Staates und der etablierten Parteien. In dem Maße, in dem sich die Linke aus diesem Protest gegen "den Staat" zurückzog, eröffnete sie ein weites Terrain für rechte und rechtspopulistische Kräfte, mittlerweile auch für Leute aus der libertären und esoterischen Szene.

Wen sehen Sie, wenn Sie auf die Corona-Demonstrationen blicken?

Es ist ein heterogenes Gemisch. Bei Demonstrationen in Westdeutschland kommen rund 15 Prozent aus der rechten Szene. In Ostdeutschland sind es deutlich mehr. Ansonsten gibt es dort Hippies, Heilpraktiker, Esoteriker, Libertäre. Sie sind kritisch gegenüber dem Staat. Eine verpflichtende Impfung ist für sie ein illegitimer Übergriff des Staates auf das, was sie als persönliche Freiheit begreifen.

Bei den Demos ging von Anfang an auch die Beisl-Wirtin, die um ihre Existenz fürchtet, neben dem überlasteten Familienvater. Und neben Rechtsextremen, die die Kundgebungen schnell für sich instrumentalisierten. Muss man Ersteren vorwerfen, dass sie sich von Letzteren nicht distanzieren?

Nein, so einfach ist das nicht. Es geht nicht, das Rechte letztlich bestimmen, wer demonstrieren darf. Wenn jedes Mal, wo rechte Kräfte auftreten, gesagt wird, da dürft ihr nicht mitlaufen, dann ist das ein implizites Demonstrationsverbot. Bei den 1.-Mai-Demos in Berlin sind immer der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), die Sozialdemokratie und die Linke dabei. Aber auch der autonome schwarze Block, der die Kundgebung mit Gewalt aufmischt. Soll jetzt der DGB sagen, wir dürfen da nicht mehr mitmarschieren? Nein, so geht es nicht. Gruppen, die etwa ökonomischen Schaden in der Pandemie erleiden und um ihre Existenz fürchten, haben ein legitimes Protestanliegen, das sie in einer Demokratie müssen ausdrücken dürfen.

Tatsächlich besorgte Bürgerinnen und Bürger könnten natürlich auch versuchen, ihre eigenen Demos zu organisieren, mit denen sie sich von radikalen Verschwörungsideologen und Neonazis abgrenzen.

Ja, sie machen das aber auch oft. Und diese Demonstrationen werden dann häufig von Rechten gekapert. Ich sehe nicht, dass diese Menschen den Rechten nachlaufen. Es ist umgekehrt: Die Rechte kapert einen legitimen Protest und führt damit auch Gewalt ein.

Teile der Szene versuchten schon, Politiker vor ihren Wohnhäusern einzuschüchtern. Tut die Polizei genug im Hinblick auf die extreme Rechte, die auf vielen Demos eine tragende Rolle spielt?

Ich glaube schon, dass sie genug tut. Ob sie es immer mit den intelligentesten Maßnahmen macht, dürfte von Fall zu Fall verschieden sein. Ich lehne es ab, wenn Fackelträger in einer Art von neofaschistischer Symbolik vor Häusern von Politikern aufmarschieren. Aber selbst da sollten wir die Kirche im Dorf lassen: Das ist kein Verbrechen. Es ist bestenfalls eine Ordnungswidrigkeit. Auch für die Polizei gilt das Gebot der Verhältnismäßigkeit. Ich glaube, dass wir nur Märtyrer erzeugen, wenn die Polizei sofort mit Knüppeln und Wasserwerfer auftritt. Wir sind demokratische, liberale Rechtsstaaten. Die dürfen wir nicht selbst beschädigen.

FPÖ-Chef Herbert Kickl sagte auf einer Demonstration, es gelte Widerstand zu leisten gegen die "Falotten-Regierung", die "uns alle umprogrammieren" wolle, sich so aber "ihr eigenes Grab" schaufle. Wie groß ist die Verantwortung von Politikern mit derart radikaler Rhetorik für die Radikalisierung der Proteste?

Das sind eindeutig Brandbeschleuniger. Solche Aussagen mit verschwörungstheoretischem Geschwurbel haben einen Radikalisierungseffekt, oft auch unter jenen, die zunächst nur skeptisch oder verneinend sind. In einer so tiefen Gesundheits- und Gesellschaftskrise auf diese Art Öl ins Feuer zu gießen, ist völlig verantwortungslos. Damit touchiert Kickl die Grenzen des Sagbaren. Das ist nichts als Hetze und Aufstachelung gegen demokratisch-legitimes Staatshandeln.

Würden Sie die Einschätzung mancher teilen, dass unsere Gesellschaften "gespalten" sind?

Den Begriff der Spaltung mag ich nicht, weil er statisch ist. Was wir erleben, ist eine Polarisierung, ein Auseinanderdriften von Teilen der Gesellschaft. Die Brücken dazwischen sind eingerissen. Das eine Lager kommuniziert nicht mehr mit dem anderen. Das ist für jede Demokratie riskant. Die Demokratie verliert einen Teil der Gesellschaft. Das Menetekel einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft ist uns in den USA an die Wand gemalt. Wichtig ist: Die übergroße Mehrheit unserer Gesellschaften akzeptiert den demokratischen Staat, eine Minderheit tut es nicht. Wenn der Staat zu repressiv auftritt, radikalisieren wir aber diese Minderheit.

Befürchten Sie weitere Radikalisierung durch Lockdowns und Impfpflicht?

Setzt man die Impfpflicht mit relativ scharfen Zwangsmitteln durch, passiert Radikalisierung. Rechtsterroristische Akte können dann nicht ausgeschlossen werden. Man wird Ungeimpfte aber nicht einfangen und zwangsimpfen wollen. Aber auch mit Geldstrafen wird Zwang ausgeübt. Will man das bei jeder erneuten Impfung tun?

In sozialen Medien liest man mitunter Forderungen, die Polizei sollte härter gegen Demonstrierende vorgehen. Eine gute Idee?

Ich halte das für eine illiberale Idee. Impfgegner sind nicht Menschen, die Migranten durch die Straßen jagen, sondern sie verstoßen eventuell gegen Auflagen eines Demonstrationsverbots. Die Polizei sollte zurückhaltend reagieren. Jede Repression erzeugt Gegenrepression.

In Amsterdam setzte man bei einem Polizeieinsatz gegen Maßnahmengegner auf "die harte Hand des Staates". Bilder von knüppelnden Polizisten und scharfen Polizeihunden ohne Beißkorb gingen um die Welt. Was hat in einer Demokratie Mitteleuropas der Kiefer eines Schäferhundes im Arm eines Demonstranten verloren?

Das sind schlechte Bilder für die Demokratie. Mich wundert es nicht sehr, dass das gerade in den Niederlanden passiert. Sie waren in den vergangenen 20 Jahren die multiethnische Gesellschaft Europas mit den liberalsten Gesetzen und Bräuchen. Das ist gekippt. Schon in der Migrations- und Flüchtlingsfrage. Der Staat reagiert jetzt offensichtlich über, um zu zeigen, dass er kein Nachtwächterstaat ist, sondern eine Demokratie auch wehrhaft sein muss. Längerfristig ist das keine intelligente Politik.

In unserer bisherigen Lebenszeit gab es wohl noch keine so große Zumutung für die Demokratie wie die Pandemie und ihre vielschichtigen Folgen. Welche Größenordnung hat das für Sie im historischen Kontext?

Für die freiheitliche Architektur unserer Demokratien war das in den vergangenen 50 Jahren vermutlich die größte Herausforderung. Ich sehe aber auch beachtliche Teile der Bevölkerung, die die größere Herausforderung in der Flüchtlings- und Migrationsfrage 2015 sahen. Wenn sich die drei Krisen Flucht/Migration, Klima und Pandemie zusammen verdichten, könnte das das Verhalten von Regierenden und Regierten verändern. Das Misstrauen in die Institutionen der Demokratie wird zunehmen.

Laut "Demokratiemonitor" des Sora-Instituts ist das Vertrauen in die Demokratie in Österreich im vergangenen Jahr massiv abgesackt. Wie sehr beunruhigen Sie solche Erhebungen?

Ein gewisses Misstrauen mündiger Bürger gegenüber denen, die uns regieren, ist für die Demokratie geradezu notwendig. Wir erleben aber doch ein zu starkes Abrutschen ins Misstrauen. Die erste Ebene ist das Misstrauen in Politiker selbst. Die zweite ist das Misstrauen in Institutionen wie das Parlament oder die Justiz. Die für mich riskanteste Ebene ist die dritte: wenn das Vertrauen der Bürger und Bürgerinnen untereinander verschwindet. Das haben wir in der Flüchtlingsfrage erlebt und erleben es jetzt mit Corona.

Wie kommen wir da raus?

Der Staat soll sich so wenig repressiv zeigen wie möglich. In der Corona-Krise soll er hohe Effizienz und Transparenz beweisen. Da hat er weder in Deutschland noch in Österreich besonders geglänzt. Man denke an die Aussagen hoher Politiker, es werde keine Impfpflicht kommen - um noch einmal eine Kehrtwende hinzulegen. Grundsätzlich sind Österreich und Deutschland gut funktionierende Demokratien. Die "fortschreitende Spaltung" ist bei weitem nicht so groß wie in den USA. Beide Demokratien können mit den Krisen wachsen. Es ist noch nicht zu spät.