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Antisemitismus als Erklärung der Welt

Von Vilja Schiretz

Politik

Die Pandemie befeuerte Verschwörungsmythen. Diese haben oft einen judenfeindlichen Kern.


Die Pandemie ist ein fruchtbarer Boden für Verschwörungsmythen. Theorien über heimliche Eliten, die den Ausbruch des Coronavirus geplant haben, treffen auf Social Media oder bei Kundgebungen auf Zustimmung. Nicht selten haben diese Fantasien einen antisemitischen Kern, der sich teilweise bis ins Mittelalter zurückverfolgen lässt. 

"Im Zusammenhang mit der Pandemie drängt sich natürlich die Parallele zur Pest auf", sagt Zeithistorikerin und Antisemitismusforscherin Isolde Vogel. Damals konnten sich die Menschen den "unsichtbaren Gegner" nicht erklären, Juden, die angeblich die Brunnen vergiftet hätten, mussten als Sündenböcke herhalten. Auch in der ersten Phase der Coronaviruspandemie herrschten Unverständnis und Unsicherheit vor, auch die Wissenschaft konnte nicht sofort Antworten liefern. "Unwissenheit füttert Verschwörungsfantasien.

Welterklärender Anspruch von  Antisemitismus

Dass es ausgerechnet Jüdinnen und Juden sind, denen immer wieder eine "Weltverschwörung" angedichtet wird, hängt laut Vogel mit den seit Jahrhunderten bestehenden Ressentiments ihnen gegenüber und vor allem dem welterklärenden Anspruch des Antisemitismus zusammen. Das unterscheidet ihn auch von Rassismus. "Antisemitismus ist die Personalisierung abstrakter Probleme. Alles Abgelehnte oder Unverstandene wird als durch eine elitäre Gruppe verursacht begriffen", sagt die Historikerin.

Solche Denkmuster sind in Österreich verbreitet, während offen zur Schau gestellter Antisemitismus weitgehend tabuisiert ist. Das bestätigt die aktuellste Antisemitismusstudie im Auftrag des österreichischen Parlaments aus dem Jahr 2020: Während eine offene Verharmlosung des Holocausts nur bei sechs Prozent der 2.000 Befragten auf Zustimmung stieß, hielt es ein Drittel der Befragten für wahrscheinlich, dass es "geheime Organisationen gibt, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben".

Auch die in der Pandemie verbreitete Wissenschaftsskepsis fügt sich in antisemitische Denkweisen ein. Im Nationalsozialismus gab es zwar keine staatliche Impfgegnerschaft, aber die Idee der "völkischen Naturheilkunde" fügte sich laut Vogel gut in die nationalsozialistische Ideologie ein. Der "natürliche, deutsche Volkskörper" würde durch den Kampf gegen Krankheiten gestärkt, eine vermeintlich "künstliche" oder "jüdische Schulmedizin" stand dem entgegen. Esoterische Ideen über Selbstheilungskräfte und die damit verbundene Ablehnung der modernen Medizin vertreten heute "auch Menschen, die sich selbst nie in der Nähe von menschenverachtenden Ideologien verorten würden." 

Eine EU-weite Umfrage von Eurostat bescheinigt Österreich jedenfalls eine vergleichsweise hohe Wissenschaftsskepsis: So sahen zwar 80 Prozent den Einfluss von Wissenschaft und Technik auf die Gesellschaft als positiv, allerdings auch 17 Prozent als negativ. Nur die Bevölkerung Frankreichs und Rumäniens ist noch wissenschaftsskeptischer.

Vogel ist "nicht der optimistischste Mensch", wenn es darum geht, ob diese jahrhundertealten Ressentiments gegen jüdische Menschen überwunden werden können, zu tief seien sie in unserer Gesellschaft und der europäischen Kultur verankert.

Aufklären, Verstehen, Enttarnen

Dennoch müsse man versuchen, sie über Bildung und Aufklärung zu bekämpfen, sei es im Schulunterricht oder in Medien. Zu oft werde Antisemitismus nur im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus oder mit gewalttätigen Angriffen verstanden. Wichtig sei es aber, die antisemitische Denkweise zu verstehen und judenfeindliche Implikationen - etwa in Theorien um eine geheime Elite die Medien, Medizin oder gar die Welt kontrollieren würde- erkennen zu können, so die Forscherin. "In welcher Ausdrucksform, durch welche Anspielungen, Themen, Bilder und Codewörter, Antisemitismus auftritt, ändert sich ständig. Möglichst viele Menschen müssen ihn dennoch enttarnen können."

Derzeit ist Antisemitismus in Österreich jedenfalls wieder auf dem Vormarsch. Die Meldestelle der israelischen Kultusgemeinde in Wien verzeichnete im Vorjahr 965 antisemitische Vorfälle. Das ist der höchste Wert seit Beginn der Erfassung vor 20 Jahren und ein Anstieg um 60 Prozent im Vergleich zu 2020.

EU-Konferenz zu Antisemitismus Auf Einladung von Bundesministerin Karoline Edtstadler findet am 18. und 19. Mai 2022 in Wien erstmals die "European Conference on Antisemitism" statt.

Erwartet werden Vertreter aus 15 Mitgliedsstaaten sowie zahlreicher internationaler jüdischer Organisationen. Ziel der Konferenz ist die Vereinheitlichung der Methodologie zur Erfassung von antisemitischen Vorfällen und eine stärkere europäische Vernetzung im Kampf gegen Antisemitismus und der Förderung des jüdischen Lebens in Europa.