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Ein Kampf gegen das Vergessen

Von Ali Cem Deniz

Politik
Die bisher größte Trauerveranstaltung der Tscherkessen in Istanbul am Sonntag.
© © Oğuz Demir

Seit 1864 leben die Tscherkessen in der Diaspora, ihre Sprache gilt als gefährdet.


Wien. Alexander Dumas bezeichnete sie als "wilde Tscherkessen". Das zaristische Russland teilte diese Ansicht und bekämpfte die Bewohner des Kaukasus. Krieg und Widerstand der Tscherkessen gegen den Zaren dauerten beinahe 50 Jahre und endeten 1864 mit ihrer Vertreibung - ein Ereignis, das auch in der russischen Geschichte prominent ist. Tolstoi erzählte in seinem Roman "Hadschi Murat" die Geschichte des gleichnamigen Widerstandskämpfers, der gewissermaßen ein Pionier des anti-kolonialen Kampfes wurde. Letztlich konnte der tscherkessische Widerstand Auswanderung und Beginn der tscherkessischen Diaspora nicht verhindern.

Es wurde zum größten Trauma in der Geschichte der Tscherkessen. In hoffnungslos überfüllten Booten und brüchigen Schiffen versuchten sie, das Schwarze Meer zu überqueren. Viele Flüchtlinge verloren ihr Leben vor der Ankunft im Osmanischen Reich: Ihre Boote gingen unter oder sie starben an Krankheiten. Begraben wurden die Toten im Meer. Die verhängnisvolle Flucht erinnert an die heutige Lage afrikanischer Flüchtlinge vor Italiens Insel Lampedusa.

Das Osmanische Reich empfing die Tscherkessen nicht nur aus humanitären Gründen. Das von Krieg und Zerfall geprägte Reich brauchte billige Arbeitskräfte und junge Männer fürs Militär. Für viele Tscherkessen war bis ins späte 20. Jahrhundert der Verzehr von Fisch ein Tabu. Sie wollten nicht die Fische des Schwarzen Meeres essen, das ihre Verwandten und Freunde verschlungen hatte. Wie viele Opfer das Vorgehen des Russischen Reiches und die Flucht gebracht haben, ist unklar. Die Zahlen schwanken von einigen hundert Tausend bis zu mehr als einer Million Todesopfern. Selbst russischen Aufzeichnungen zu Folge verblieben nach Ende des Kriegs nur ein Zehntel der Tscherkessen in ihrer Heimat.

Im Osmanischen Reich und später in der türkischen Republik wurden die Tscherkessen Opfer von Assimilations- und Umsiedelungspolitiken. So verteilte sich die tscherkessische Diaspora über das ganze Osmanische Reich und den Nahen Osten. Heute leben sie in der Türkei, Syrien, Jordanien, Israel, aber auch in Europa und den USA. Besonders mit der Gastarbeiterbewegung der 60er Jahre kamen viele Tscherkessen aus der Türkei nach Europa. Viele tscherkessische Vereine in Europa versuchen heute ihre Traditionen und die tscherkessische Sprache zu bewahren.

Für die Tscherkessen in der Türkei war die Bewahrung der eigenen Sprache keine einfache Aufgabe. Wie auch das in Europa bekanntere Kurdisch, war Tscherkessisch verboten. Tscherkessen mussten türkische Namen annehmen. Dass Tscherkessisch eine eigenständige Sprache ist, die nichts mit Türkisch gemein hat, wurde lange ignoriert.

Der lange Kampf der Kurden um Minderheitenrechte und der EU-Prozess der Türkei haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass sich der türkische Staat auch den Forderungen der tscherkessischen Minderheit vorsichtig geöffnet hat. So strahlen die staatlichen TRT Kanäle Spezialsendungen auf Tscherkessisch aus. Ob mit einer neuen Verfassung der muttersprachliche Unterricht ermöglicht wird, ist noch unklar. Das ist für die Tscherkessen besonders wichtig; Tscherkessisch wurde 2009 von den Vereinten Nationen in die Liste der gefährdeten Sprachen aufgenommen.

Neue Aufmerksamkeit?

Die Tscherkessen sind ein vergessenes Volk, ihre Sprache verschwindet langsam. Während sie im Nahen Osten noch präsent sind, sind sie in Europa weitgehend unbekannt. Sie tauchten kurz im Orientalismus des 19. Jahrhunderts als Objekte der Begierde aus dem osmanischen Harem auf und in den Ideen des Rassentheoretikers Johann Friedrich Blumenbach. Für ihn war die "kaukasische Rasse", die ursprünglichste aller "Rassen". Noch heute wird im Englischen der Begriff "caucasian" für hellhäutige Menschen verwendet.

Doch schon bald könnte sich die Aufmerksamkeit auf die vergessenen Tscherkessen richten. Sotschi soll Austragungsort der olympischen Winterspiele werden, was wegen der Unterdrückung der Menschenrechte in Russland und regionaler Instabilität auf Kritik stößt. Bei der tscherkessischen Diaspora ist der Austragungsort besonders unbeliebt: In Sotschi wurden die Tscherkessen umgebracht und vertrieben. Sensibel ist das Jahr, in dem die Winterolympiade stattfindet: 2014 jährt sich der Beginn der Diaspora zum 150. Mal.

Am 21. Mai, dem Gedenktag der tscherkessischen Vertreibung, organisierten tscherkessische Vereine in der Diaspora Gedenkveranstaltungen. Die Tscherkessen kämpfen gegen das Vergessen - außerhalb und innerhalb ihrer Gemeinschaft. In der Türkei wachsen die meisten tscherkessischen Kinder mit Türkisch als Muttersprache auf, aber ihre Namen erinnern an ein vergessenes Volk. Seit einigen Jahren ist es ihnen möglich, ihre eigenen Namen zu verwenden. So tauchen plötzlich Namen auf, die sie vor mehr als einem Jahrhundert in ihrer Heimat zurückgelassen hatten.

Auch das Internet hilft der tscherkessischen Diaspora, ihre Erinnerungen und Identität nicht zu verlieren. Auf Facebook vernetzen sich Tscherkessen aus unterschiedlichsten Ländern. Mithilfe sozialer Netzwerke suchen sie verlorene Verwandte. Besonders junge Menschen sind präsent. Videos von Liedern und Tänzen werden geteilt und verbreitet. Die Zukunft wird zeigen, ob neue Freiheiten und Kommunikationsmöglichkeiten der Tscherkessen reichen werden, um den Kampf gegen das Vergessen zu gewinnen. Vielleicht erinnert sich auch Europa wieder an sie bei den Olympischen Winterspielen.