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Die eigene Identität neu verhandeln

Von Lea Müller-Funk und Stefan Beig

Politik

Heimat betrifft alle, nicht nur den Einzelnen, betonen die Autorinnen.


Wien. Heimat - aber welche? Der Soziologe Kenan Güngör scheint die Frage für sich mit einer neuen Bezeichnung beantwortet zu haben: "mehrheimisch, statt einheimisch sein". In der Türkei geboren, in Deutschland zur Schule und auf die Uni gegangen, in der Schweiz gearbeitet, heute Wahl-Wiener - das waren seine Stationen. Das Heimat-Gefühl sei überall anders, erzählt er: "Das Verhältnis zu Deutschland und Österreich ist kopflastiger. Die kurdischen Berge sind dort, wo die Sehnsucht liegt." Doch bei einem längeren Türkei-Aufenthalt würde er gewisse Dinge vermissen, wie Sicherheit und bestimmte Diskurse. Güngör vergleicht die Türkei mit einer Frau, die ihm gefällt, mit der er aber nicht dauerhaft zusammenleben möchte. "Bei der Rückkehr bemerke ich, an wie viele Selbstverständlichkeiten ich mich hier gewöhnt habe. Einem wird bewusst, dass man hier viel mehr Zeit verbracht hat." In Wien wohne er, weil er sich hier wohlfühle: "Ich sehe mich als Bürger dieser Stadt, nicht als Einheimischer."

Doch Fragen nach Heimat betreffen nicht nur den Einzelnen, sondern auch die Gesellschaft. Das betonen die drei deutschen Journalistinnen Özlem Topçu, Alice Bota und Khuê Pham in ihrem bei Rowohlt erschienenen Buch "Wir neuen Deutschen. Wer wir sind, was wir wollen". Die Wut, in einer Gesellschaft zu leben, in deren Selbstverständnis sie nicht vorkommen, habe sie zum Schreiben bewogen. Das Buch stellt eine zentrale Frage: Was bedeutet "deutsch sein" heute? Bei 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund müsse Deutschland seine Identität neu verhandeln, gemeinsam mit Menschen mit Migrationshintergrund - die Autorinnen sind gegen den Begriff.

Leben im Niemandsland

Die drei Politik-Journalistinnen schreiben für die "Zeit", ihre Eltern stammen aus Polen, der Türkei und Vietnam. Ihre Lebensgeschichten vergleichend, kommen sie zu ähnlichen Ergebnissen: Ihre Identitäten seien sperrige Hybride, die schlecht in existierende Kategorien passen: "Wir kommen nirgendwo her und nirgendwo an. Es gibt keinen Ort, an dem wir unseren Zwiespalt überbrücken können, denn er liegt im Niemandsland zwischen deutscher und ausländischer Kultur." Ratlos macht der Heimatbegriff: "Wir finden, dass es sich verdammt gut lebt in diesem Land, von dem wir nicht wissen, wie wir es nennen sollen: Heimat? Zuhause? Fremde? Unser Deutschland - oder doch: euer Deutschland?" Das liege an der Außenwahrnehmung, den ständigen Fragen nach den eigenen Wurzeln.

Auch das Verhältnis zum Herkunftsland sei zwiespältig. Zum einen die Hoffnung, beim Besuch der Heimat ihrer Eltern in die andere Kultur einzutauchen, sich zu Hause zu fühlen: "In diesen Momenten erkennen wir uns selbst nicht wieder. Wir reden vor der vietnamesischen Großmutter nur nach Aufforderung. Wir bringen dem türkischen Onkel den Tee und gehen mir der polnischen Cousine in die Messe." Dann folge die Erkenntnis, auch hier nicht ganz dazuzugehören. Man blicke mit deutschen Augen auf die Verwandten, vergleiche, kritisiere innerlich soziale Zustände: "Wenn wir im Ausland sind, spüren wir, wie deutsch wir sind." Diese Einsicht gehe mit dem Schuldgefühl einher, einen Teil seiner Identität aufgegeben zu haben

Das Kapitel "Schönen Dank fürs Erbe" widmet sich der Beziehung zu den Eltern. Von viel Druck ist die Rede. Die jüngere Generation müsse das erreichen, was die Eltern nicht geschafft haben, müsse ihre Leben mit dem eigenen Leben weiterführen und besser machen. "Ich musste etwas zustande kriegen, weil sie unseretwegen nicht zurückkehrten. Wie wir das anstellten, war allerdings unser Problem", schreibt Özlem. Dieser Leistungsdruck, erfolgreich in der neuen Gesellschaft zu sein, war mit der unmöglichen Forderung gepaart, die kulturellen Eigenheiten zu bewahren: "Unsere Eltern wollten, dass wir so wurden und blieben wie sie, aber mit guten Jobs und perfekter Aussprache."

Optimistisch ist die Schlussfolgerung: Diese Zerrissenheit sei auch Vorteil: "Unser Charakter wurde davon geprägt, dass wir nicht einen Ursprung haben, sondern zwei Kulturen. Irgendwann begriffen wir: Wir haben kein Manko, wir haben mehr." Als Eigenbezeichnung schlagen sie "neue Deutsche" vor.

Die alte Heimat-Vorstellung müsse überdacht werden: "Sie passt nicht in diese Zeit. Deutschland ist grenzüberschreitender geworden. Eine neue Art von Heimat entsteht." Das deutsche Selbstbild müsse neu verhandelt werden. Die neuen Deutschen müssten mitdiskutieren: "Das ist eine ziemlich konkrete Utopie, aber mit weniger wollen wir uns nicht zufriedengeben."