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Integrationspossen in Wien

Von Stefan Beig

Politik

Gemeindebau, U-Bahn, AMS, Schule - an den Schauplätzen der "Integration".


Wien. Ein kräftiges "Allahu Akbar!" reißt Melih Gördesli aus dem Bett. "Meine türkischen Nachbarn haben sich eine neue Uhr mit Muezzin-Funktion zugelegt, die die praktizierenden Famlienangehörigen zum Gebet aufruft", erzählt Gördesli in seinem Buch mit dem kurzen, prägnanten Titel "Integration". Durch die dünnen Wände der Gemeindewohnung hört er alles durch, auch die Gespräche am Frühstückstisch oder das Quietschen der Kleiderschranktür. Weil er den Kindern auch Nachhilfeunterricht erteilt, bringt ihm die Mutter zuweilen Essen.

Weniger Glück hat Gördesli mit der Nachbarin über ihm, einer alkoholabhängigen Wienerin mit zwei Hunden. Selbst mitten in der Nacht stampft sie mit den Füßen auf den Boden, um ihren Hunden klarzumachen, dass sie die Herrin im Haus ist. Anfragen bei Wiener Wohnen haben nichts gebracht. Nicht weniger ärgert sich Gördesli über die Frauen aus der Nachbarschaft, die vor ihrer Stiege sitzen - "hauptsächlich bildungsferne, sozial schwache Frauen mit sogenanntem Migrationshintergrund, die fast den ganzen Tag über Nachbarn, Bekannten und Familien lästern." Die bildungsfernen Einheimischen - ohne Migrationshintergrund - beobachten meistens von ihren Wohnungen aus unauffällig die unten sitzenden Frauen, deren Sprache sie nicht verstehen.

Aufklärung durch Humor

Eindrücke wie diese hat Gördesli in seinem zweiten Buch "Integration" festgehalten. Im Eigenverlag ist es erschienen, ohne Fördergelder. Wie im Erstling "Ohne Heimat" wählte der 26-jährige Austrotürke einen persönlichen, autobiografischen Zugang, der aber diesmal ausgesprochen humoristisch ist. "Ich denke, das ist der bessere Zugang für die Leser", meint er im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". "Ich möchte die Gesellschaft aufklären, denn es fehlt an Aufklärung. Ich schreibe aus Sicht eines Betroffenen."

Der Gemeindebau ist einer der Schauplätze. Für die geschilderten Streitereien dort gibt es aus Gördeslis Sicht einen einfachen Grund: "Mit der Entfernung der Hausbesorger vor zehn Jahren hat alles angefangen. Früher hatte fast jede Stiege einen Hausbesorger. Er war die erste Anlaufstelle bei Beschwerden und hat alles noch am selben Tag vor Ort erledigt. Auf die nun zuständigen Wohnpartner wartet man ewig." Es wird erst eingeschritten, wenn die Situation schon längst eskaliert ist. "Es gibt keine Hausordnung mehr", unterstreicht Gördesli. "Dem neuen Mieter wird der Wohnungsschlüssel in die Hand gedrückt, ohne Aufklärung über die Lage vor Ort."

Gördesli macht in seinem Buch seinem Ärger über Migranten wie Einheimische Luft. So stört ihn, dass türkische Mütter ihre Kinderwägen einfach vor die Haustür stellen, sodass die österreichischen Mieter über diese Hindernisse beim Hineingehen buchstäblich klettern müssen. Doch auch Ressentiments der Mehrheitsgesellschaft spart er nicht aus, etwa in der U-Bahn. "Zug fährt ab!" ruft der Fahrer. Eine kopftuchtragende Frau bleibt zwischen den Türen stecken. Die Türen gehen noch einmal auf und zu. "Wenn i sog: Zug fährt ab, dann güt des a für die Kopfticherl!", hallt es aus dem Lautsprecher. Ein andermal freut sich Gördesli über die Pluralismus betonende Werbung einer Bäckerei, doch eine türkischstämmige Angestellte erzählt ihm, dass man hier nicht Türkisch sprechen darf. Ihn stört "die Verlogenheit".

Schuld an vielen Ressentiments ist seiner Meinung nach die Integrationsdebatte. "Natürlich ist Integration kein Tabu-Thema. Man soll es ansprechen", meint Gördesli. "Nur werden bestimmte Begriffe schnell von der Mehrheitsgesellschaft aufgenommen und als Schimpfwörter instrumentalisiert. Dann kommen Sager wie: Schau, die Nicht-Integrierten, die leben in einer Parallelgesellschaft." Es fehlt eine einheitliche Definition von Integration, die Politik sollte sie aber liefern und klären: Integration bedeutet erstens, zweitens, drittens. . . "Für mich ist zum Beispiel wesentlich, ob jemand in der Lage ist, selbstständig den Alltag zu meistern", sagt Melih Gördesli. Das betreffe aber nicht nur Migranten: "Manche alte Menschen schaffen das auch nicht mehr."

Auf Einheimische vergessen

Nach dem Studium der medizinischen Informatik war Gördesli eine Zeit lang arbeitslos und wurde vom Arbeitsmarktservice (AMS) zu einem Bewerbungskurs geschickt. Es ist der nächste Schauplatz seines Buchs. "Ich war der einzige Akademiker in der Gruppe. Die nächsthöheren Bildungsabschlüsse waren Lehre und Hauptschulabschluss. Der Kursleiter musste mit dem Niveau hinuntergehen. Man verdummt dort", sagt er. Effizienter wäre es, wenn die Berater zunächst mehr als nur fünf Minuten Zeit für die Beratung hätten, individueller berieten und die Kunden nachher in professionelle Kurse schickten. Dass viele Probleme immer auf fehlende Integration der Migranten zurückgeführt werden, geht auch zu Lasten der Einheimischen. Beim AMS ist Gördesli vielen Jugendlichen ohne Migrationshintergrund begegnet. "Deren Situation wird kaum thematisiert. Sie haben die gleichen Probleme - familiäre, soziale, Perspektivenlosigkeit."

Erfahrungen innerhalb der türkischen Community sammelte Melih Gördesli später im Wahl-Team von Ibrahim Beyazit, dem Vorsitzenden der türkischen Unternehmer im Sozialdemokratischen Wirtschaftsverband. Etliche türkischstämmige Unternehmer gehen unfreiwillig in die Selbstständigkeit, erzählt Gördesli, weil sie im Job wegen ihrer Herkunft gemobbt werden. Doch Mobbing erlebte er auch innerhalb der Community: "Islamische Gruppierungen behaupten, Ibrahim sei Christ, Alevit oder Orthodoxer", schreibt er, "andere werfen ihm Homosexualität vor oder sagen, er sei Kettenraucher, Fan von Galatasaray Istanbul, oder Kurde und sogar PKK-Anhänger."

Er wollte zeigen, wie die türkische Community tickt, meint Gördesli im Gespräch. In Wahrheit gebe es sie nämlich nicht. "Dafür gibt es so viele Abspaltungen, dass zwei Händen zum Abzählen nicht ausreichen." Und: "Rassismus und Diskriminierung sind innerhalb der Community teils noch stärker."

Einen Niederschlag im Buch fand auch Gördeslis Tätigkeit als Integrationsbotschafter in Wiener Schulen bei projektXchange. Seit 2011 hat er 15 Schulbesuche absolviert. Ob fast alle Schüler Migrationshintergrund hatten oder "nur" sieben, habe man nie
bemerkt. "Mich stört es daher sehr, wenn man von Ghettoklassen spricht." Seine Erfahrungen als Integrationsbotschafter haben Gördesli positiv überrascht. "Es gab ein gutes Klima, Mitschüler mit Migrationshintergrund waren eine Normalität, Klassifizierungen wie Türke, Serbe und so weiter gab es zu meiner Überraschung nicht. Zu meiner Zeit war das keine Selbstverständlichkeit. Manches ändert sich."

Künftig will sich Gördesli weiter für Integration engagieren, aber unter einem anderen Begriff: Partizipation.