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"Eltern sind grässlich uninformiert"

Von Petra Tempfer

Politik
Streit und Geschrei der Eltern belastet jedes Kind - wird es zudem instrumentalisiert, für einen Elternteil Partei zu ergreifen, kann es in eine tiefe Lebenskrise stürzen.
© fotolia

Kindesschutz geht in den Augen von Experten weit über Gewaltschutz hinaus.


Wien. "Richter können lediglich Entscheidungen treffen - aber nicht Konflikte lösen", sagte die Vorsitzende der Fachgruppe Familienrichter, Doris Täubel-Weinreich, am Mittwoch. Konkret sprach sie damit Scheidungen an, die nicht nur die betroffenen Paare, sondern oft auch Kinder in eine tiefe Krise stürzten.

Ihnen soll nun geholfen werden: Ab 1. Februar muss im Zuge der neuen Obsorge-Regelung vor einvernehmlichen Scheidungen eine verpflichtende Erziehungsberatung absolviert werden, bei strittigen Verfahren kann sie gerichtlich angeordnet werden. Generell kann die Obsorge durch die neue Regelung künftig auch bei strittigen Trennungen beiden Elternteilen übertragen werden. Außerdem können sogar ledige Väter die gemeinsame oder alleinige Obsorge selbst gegen den Willen der Mutter beantragen.

"Die verpflichtende Erziehungsberatung könnte ein großer Wurf sein", meinte dazu Psychotherapeutin und Leiterin der Arge-Erziehungsberatung, Martina Leibovici-Mühlberger. Warum "könnte"? "Profunde Standards müssen noch festgelegt werden." Denn momentan könne jeder, der sich Erziehungsberater nennt, Eltern einen Beratungsbeleg ausstellen. Weder konkrete Inhalte, noch eine genaue Stundenanzahl seien festgelegt.

Ziel ist, gesellschaftliches Bewusstsein zu schaffen

Zudem variieren die Beratungskosten, die die Eltern zu tragen haben, stark. Derzeit werden Kurse um 28 bis zu 70 Euro pro Person angeboten. In dieser Hinsicht steckt die Erziehungsberatung, die von den Elternteilen getrennt besucht werden kann, also noch in den Kinderschuhen - fix ist laut Leibovici-Mühlberger allerdings: "Viele Eltern sind grässlich uninformiert." Sie wüssten viel zu wenig darüber, was eine Scheidung aus Sicht des Kindes bedeute: dass es durch den "Verlust" eines Elternteils in eine tiefe Lebenskrise stürzen kann. Und mitunter orientierungslos, verunsichert, wütend oder ängstlich wird, falls es auch noch instrumentalisiert und zum "Kampfplatz" der streitenden Eltern wird.

"Manche Kinder leiden darunter so sehr, dass sie schwer auffällig werden", berichtete Leibovici-Mühlberger. Ziel müsse daher sein, ein gesellschaftliches Bewusstsein für Scheidungskinder zu schaffen, sodass selbst nicht verheiratete Eltern bei Trennungen freiwillig eine Erziehungsberatung absolvieren.

Kindeswohl und Kindesschutz standen auch im Fokus der Präsentation des vierten Jahresberichts der Liga für Kinder- und Jugendgesundheit ebenfalls am Mittwoch. In Österreich, dem drittreichsten Land der EU, benötige man mehr Ressourcen für eine gesunde Entwicklung der Heranwachsenden sowie eine Einstellungsänderung in Gesellschaft und Politik, betonte Liga-Präsident Klaus Vavrik. Denn: "Kindesschutz ist deutlich mehr als der Schutz vor direkter Gewalt."

Alle Formen psychischen Drucks wie Demütigungen, Liebesentzug oder Ängstigung seien ebenfalls Gewalt. "98 Prozent der Kinder werden physisch und psychisch gesund geboren. Aber ein paar Jahre später, im Kindergartenalter, kommen die ersten Probleme. Weitere Jahre später werden sie therapiebedürftige Wesen", so Vavrik.

Kinderzimmer als Schauplatz direkter Gewalt

Nach wie vor seien Kinderzimmer aber auch Schauplatz direkter, körperlicher Gewalt - selbst 30 Jahre nach dem Zitat des Wiener Kinderarztes Hans Czermak: "Die g’sunde Watschn macht krank." 55 Prozent der 16- bis 20-Jährigen geben heute laut Vavrik an, körperliche Gewalt erlebt zu haben. Fast ebenso viele Eltern bekennen sich zu schweren Körperstrafen wie "den Po versohlen". Lediglich 30 Prozent der Eltern sei überhaupt bekannt, dass Gewalt in der Erziehung seit 1989 verboten ist.

"Von schwerem sexuellem Missbrauch ist jedes zehnte Kind betroffen, 800 Fälle werden pro Jahr angezeigt. Zu Verurteilungen kommt es bei etwa einem Fünftel", ergänzte Adele Lassenberger, Vorsitzende des Bundesverbandes der Kinderschutzzentren.

Frühzeitige Psychotherapie könnte helfen, um Folgeschäden zu vermeiden, meinte dazu der Österreichische Bundesverband für Psychotherapie (ÖBVP). Allein: In Österreich fehlen 60.000 bis 80.000 kostenfreie Therapieplätze für Kinder und Jugendliche mit chronischen körperlichen oder seelischen Leiden. Der ÖBVP forderte daher die Gewährleistung frühzeitiger Psychotherapie für junge Opfer von Gewalt - und zwar ohne Limitierung und Kostenbeteiligungen.