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Ritter der Taferlklasse

Von Ljubisa Buzic

Politik
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Die Zukunft in der Tasche : Volksschule in Vitinica mit Kemal und Amra Smajic (Mitte oben)
© Smajic

Die ehemaligen Flüchtlinge Amra und Kemal sammeln für Schulkinder.


Wien. Für Amra und Kemal Smajic ist eine Schultasche mehr als eine Schultasche. Alles zu haben, was man braucht, war für sie nicht immer selbstverständlich. Das Ehepaar mit bosnischen Wurzeln sitzt mit ihren beiden Kindern im modern eingerichteten Wohnzimmer in Simmering. Tochter Hana ist sieben und kommt heuer in die erste Klasse, Alen, ihr Bruder, ist neun. Sein erster Schultag hat das Leben der Familie von Grund auf verändert - und auch das Verhältnis der Smajics zu ihrer alten Heimat Bosnien.

Der Kleinstaat mit 4,5 Millionen Menschen leidet unter Korruption, schwacher Infrastruktur und einer Arbeitslosigkeit von fast fünfzig Prozent. Wenn Kemal Smajic über die Zustände dort spricht, schwingt Wut und Enttäuschung mit: "Im heutigen Bosnien kann man Kinder mit Plastiksackerln in die Schule gehen sehen."

Von zwölf auf 3200 Taschen

Im Mai 2010 steht Kemal Smajic zwischen Regalen voller neon-farbener Schultaschen beim Spielzeughändler Toys R Us in Wien. Sein Sohn kommt im Herbst in die Schule. Die Kinder in den armen Dörfern Bosniens gehen ihm durch den Kopf, während er vor den Schultaschen steht, die ihre Eltern nicht kaufen können. Kemal Smajic nimmt eine bunte Tasche heraus, zwei, drei, und noch zwei - am Ende steht er bei der Kasse und bezahlt zwölf. So viel, wie er tragen kann. "Ich habe gedacht, jetzt ist er übergeschnappt," erinnert sich seine Frau Amra.

Die zwölf Schultaschen sollten zwölf Kindern in Bosnien einen besseren Start in einen neuen Lebensabschnitt geben. Ihre Zukunft sollte nicht mit einem Plastiksack beginnen. Was danach geschah, hatte Kemal Smajic nicht erwartet. Inspiriert von seiner Idee, meldeten sich Freunde und Verwandte, die ebenfalls helfen wollten. Das war die Geburtsstunde seines Vereins "Futurebag". Allein im Vorjahr sammelten die Smajics mit Spenden und Benefizveranstaltungen 3200 Schultaschen für bosnische Erstklässler. Dass das noch lange nicht ausreicht, wissen die beiden. Jedes Jahr kommen 25.000 Erstklässler in Bosnien in die Schule. In einem Land, in dem jeder zweite Erwachsene keine Arbeit hat, ist das eine große Belastung für viele Familien.

Kemal Smajic, der fast zwei Meter große, kräftige Austro-Bosnier mit gepflegtem Bart arbeitet als Senior IT-Projektmanager bei der Post. Neben diesem Job widmet er drei Stunden am Tag seinem Verein: Web-Site aktualisieren, Spenden verwalten, Flyer verteilen. Seine Frau, ein paar Freunde und Bekannte helfen ihm dabei. Der zweifache Vater zeigt auf einen Stapel Plakate in einer Ecke des Wohnzimmers. Die muss er nächste Woche in der Stadt aufhängen. Die Plakate kündigen das Benefizkonzert der Rock-Gruppe "Zabranjeno Pusenje" in der Szene Wien an. Es sind Urgesteine der jugoslawischen Rock- und Pop-Szene der 1980er, die Kemal Smajic noch aus seiner Zeit als Journalist kennt. Der gesamte Erlös ihres Konzerts am 8. Juni geht an die bosnischen Schulkinder.

Die multi-ethnische Band Zabranjeno Pusenje (zu deutsch "Rauchen verboten") wurde 1980 in Sarajewo gegründet. Es war das Jahr, in dem Kemal Smajic geboren wurde und der jugoslawische Staatsgründer Josip Broz, genannt Tito, starb. Wenn Kamal Smajic über den Zerfall Jugoslawiens spricht, merkt man ihm den Verdruss an. "Sie haben aus einem funktionierenden Staat sechs nicht funktionierende gemacht," meint er. Das Konzert der Jugo-Rocker in der Szene Wien soll die seiner Meinung nach "besseren, alten Zeiten" wieder ein bisschen aufleben.

Denn es sei Nationalismus und ethnischer Hass gewesen, der das alte Jugoslawien in den 1990er Jahren spaltete. Die Kriege und Vertreibungen, vor allem in Bosnien, waren die größte humanitäre Katastrophe in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Hunderttausende flohen aus ihrer Heimat. Allein in Österreich wurden mehr als 90.000 Bosnien-Flüchtlinge aufgenommen - unter ihnen auch die Familien der heutigen Eheleute Smajic.

Die Ankunft mit dem Flüchtlingskonvoi am überfüllten Westbahnhof in Wien war vielleicht der wichtigste Tag im Leben der Smajics. Amras Familie fand Unterstützung bei Freunden und Verwandten in Laxenburg, während Kemals Familie in der Wiener Pfarre Kagraner Anger unterkam. Dort half man mit Kleidung und Deutschkursen und unterstützte die Eltern bei der Suche nach Arbeit. Der 13-Jährige und die 12-Jährige - später ein Ehepaar - kamen damals in die Schule, wurden betreut und gut aufgenommen. Heute sind sie ein Vorzeigebeispiel für geglückte Integration. Und sie geben etwas von der Hilfe, die sie erhalten haben an andere weiter.

Symbol der Verantwortung

Unter den Spendern für "Futurebag" sind Österreicher, genau so wie eingebürgerte Serben, Kroaten und Bosniaken. In jedem Schulpaket, das nach Bosnien geht, steckt ein Brief, in dem steht, von wem die Spende kommt. Vielleicht, so stellt es sich Kemal Smajic gerne vor, lesen ja die Eltern eines kleinen serbischen Kindes die muslimischen Namen ihrer Wohltäter - und umgekehrt. Vielleicht bewirkt das etwas in den Köpfen. Eine Schultasche umgehängt zu bekommen, hat für Smajic jedenfalls eine tiefe Bedeutung. Es symbolisiere, Verantwortung zu tragen. "Und um etwas zu tun mit seinem Leben."

Im Wohnzimmer der Smajics zeigen Alen und Hana ihre Schulsachen her. Die Tochter kommt im Herbst in die erste Klasse und drückt ihre neue rosa Schultasche mit beiden Armen fest an die Brust. Was sich die Eltern für ihre Kinder wünschen? Kemal Smajic hofft, dass sie in einer weniger materialistischen Welt leben. "Sie sollen ihren Weg finden", fügt Amra nachdenklich hinzu. Und damit meint sie nicht nur ihre eigenen Kinder.