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Zum Leben zu wenig . . .

Von Katharina Schmidt

Politik

Working Poor: Experte Fischer über Ursachen und Lösungsmöglichkeiten.


Gmunden. Die Zahl der Erwerbsarmut, der sogenannten Working Poor, ist in Österreich zwischen 2004 und 2011 zwar zurückgegangen, aber insgesamt greift das Phänomen in Europa immer mehr um sich. Georg Fischer, österreichischer Arbeitsmarktexperte in der EU-Kommission, hat vergangene Woche beim Dialogforum Migration und Integration der Donau Uni Krems in Gmunden über das Thema gesprochen.

"Wiener Zeitung": Das Phänomen der Working Poor - also Menschen, die trotz Arbeit arm sind - hat lange Zeit als USA-spezifisch gegolten. Warum ist es in die europäischen Wohlfahrtsstaaten übergeschwappt?Georg Fischer: Zunächst einmal gilt es, abzuklären, was mit Working Poor gemeint ist. Meint man damit Menschen, die nicht genug verdienen, um damit ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, obwohl sie Vollzeit arbeiten, ist es richtig, dass das lange Zeit kein europäisches Thema war. Wir haben die Augen davor zugemacht, dieses Phänomen war in Europa aber auch weniger stark vertreten. In der Armutsdiskussion bezieht sich Working Poor auf den Haushalt, in dem jemand lebt. Da kann es sein, dass eine alleinerziehende Frau von drei Kindern mit einem normal entlohnten Job trotz Kindergeldes nicht genug verdient, um das Gesamteinkommen des Haushalts über 60 Prozent des Medianeinkommens in ihrem Land zu halten.

Welche anderen Gruppen sind besonders gefährdet und warum?

Das kommt auf den Mitgliedstaat an. In einigen reichen die sozialen Transfers aus, um einen Haushalt mit einer Vollzeitarbeitskraft und zwei Kindern nicht in die Armut abrutschen zu lassen, in anderen ist das nicht so. Vor allem in Zentral- und Osteuropa kommen die Haushalte trotz Vollzeitarbeit nicht über die Armutsschwelle. In manchen Staaten ist die verfügbare Arbeitszeit kurz, hier spricht man dann von zu geringer Arbeitsintensität. Schließlich sind in manchen Staaten auch schlicht die Stundenlöhne zu niedrig. Stark sind Alleinerziehende und junge Menschen sowie jüngere Existenzgründer betroffen. In Österreich trifft es besonders Menschen mit nicht-österreichischer Staatsbürgerschaft - vor allem Drittstaatsangehörige.

Viermal mehr Drittstaatsangehörige als Österreicher sind Working Poor. Werden Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt auf ihren Rücken ausgetragen?

Ich habe diesen Eindruck. Generell leben Migranten öfter in Armut als Nicht-Migranten, weil sie wohl oft schlechte entlohnte Jobs haben, vielleicht auch mehr Kinder und weniger über Transferleistungen wissen. Ich weiß, dass oft behauptet wird, dass Migranten in reiche Mitgliedstaaten kommen, um dort die soziale Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Dafür gibt es wenig Evidenz, eher dafür, dass Migrantenhaushalte weniger ihnen zustehende Geldleistungen wirklich in Anspruch nehmen. Gleichzeitig trägt der Migrantenarbeitsmarkt die größte Anpassungslast.

Welche Ursachen sehen Sie hinter dieser Entwicklung?

Es ist eine Mischung aus Qualifikation, Arbeitsmarktbeteiligung und Diskriminierung. In Schweden sind die Nicht-Migranten stärker betroffen. Überraschend ist, dass die Working-Poor-Quote in Österreich genau dem EU-Durchschnitt entspricht, jene der Österreicher ist aber viel niedriger als die durchschnittliche der Einheimischen in der Union. Das zeigt wohl, dass der Arbeitsmarkt und das soziale Sicherungssystem für die Österreicher besser funktioniert. Man könnte das positiv formulieren und nachfragen, wie man Migranten in diesen besser funktionierenden Arbeitsmarkt ziehen könnte.

Wie können sich die einzelnen Betroffenen aus dieser Lage befreien?

Es ist ein Haushaltsphänomen, jedes Individuum im Haushalt kann daher etwas tun. Aber das heißt nicht, dass 17-Jährige ihre Ausbildung aufgeben und stattdessen arbeiten gehen sollen. Das hätte kurzfristig vielleicht einen Effekt, ist aber langfristig für niemanden die Lösung. Es könnten bisher nicht-arbeitende Personen arbeiten oder wenig arbeitende mehr arbeiten. Wichtig sind Bildung, Qualifikation, eine gut funktionierende Arbeitsmarkt-Politik und eine vernünftige Kinderbetreuung.

Welche Arbeitsmarkt- und lohnpolitischen Maßnahmen sind sinnvoll?

Arbeitsmarktpolitisch ist alles wichtig, das es jemandem erlaubt, sich mehr oder länger auf dem Arbeitsmarkt zu beteiligen. Hier ist ein gut funktionierendes Arbeitsmarktservice hilfreich, in speziellen Fällen können auch Lohnkostenzuschüsse helfen. Löhne wiederum haben eine wichtige Rolle im Wettbewerb: Wenn sie zu hoch sind, schaffen sie nicht Arbeitsplätze, sondern können sie vernichten. Wenn sie zu niedrig sind, kann es sich unter bestimmten Umständen nicht lohnen, zu arbeiten. Schließlich stützen Löhne auch die Kaufkraft, das ist in einem Bereich wie den Working Poor besonders relevant. Dies zeigt sich deutlich in Ländern mit ausreichendem Mindestlohn.

Der ÖGB fordert 1500 Euro Mindestlohn. Wie sinnvoll ist das in einem Land mit 98 Prozent kollektivvertraglicher Abdeckung?

Man muss die richtige Balance finden zwischen Kaufkraft, Wettbewerbsfähigkeit, Produktivitätsbezug und Anreiz. Ob 1500 Euro realistisch sind oder nicht, darüber kann man streiten. Aber Österreich wird diese Diskussion führen müssen, denn Niedriglöhne stellen hierzulande einen maßgeblichen Faktor für die Existenz von Working Poor dar - ein Thema, zu dem die Sozialpartner selbst tätig werden müssen.

Welche weiteren Maßnahmen halten Sie für sinnvoll, um die Zahl der Working Poor zu reduzieren?

Sinnvoll wäre es auch, sich über die Lohnkosten Gedanken zu machen. Grosso modo gibt es in Europa die Tendenz, von arbeitsbezogenen Finanzierungsformen der Sozialversicherung langsam abzurücken und andere zu finden. Aber das sind mühsame Prozesse. Österreich gibt relativ viel Geld für Sozialtransfers aus. Diese sind zwar durchaus wirkungsvoll, allerdings gelingt die Armutsreduktion bei der Gesamtbevölkerung besser als bei Kindern. Dazu fällt auf, dass Österreich relativ viel für Transfers in Cash ausgibt und weniger für soziale Dienstleistungen im Bereich von Kinderbetreuung und frühkindlicher Erziehung.

Wäre es also sinnvoll, Transferzahlungen herunterzuschrauben zugunsten von Sachleistungen? Dazu liegen ja auch in Österreich einige Vorschläge vor.

Österreich könnte wahrscheinlich durch die Verschiebung von Geldtransfers zu sozialen Dienstleistungen die Kinderarmut verringern. Die Verteilungswirkungen der Fiskaltransfers sollten dabei auch bedacht werden. Eine Ressourcenumschichtung hätte eine aktivierende Wirkung, wodurch die Notwendigkeit für bestimmte Sozialtransfers verringert wird, weil die Menschen selbst genug verdienen.

Sie haben erwähnt, dass man bei der Finanzierung des Sozialsystems kreativ sein sollte. In Österreich wird diese Debatte in Hinblick darauf geführt, Vermögen stärker zu besteuern, Arbeit weniger.

Grundsätzlich ist das sinnvoll. Aber man muss auch sehen, warum soziale Sicherungssysteme typischerweise über Arbeit finanziert werden. Einer ist das sogenannte Äquivalenzprinzip zwischen Beiträgen und Leistungen, das den Charakter der Leistung als Recht verstärkt. Zweitens ist es leider leichter, Arbeit zu besteuern als flüchtigere Einkommensformen. Hier bräuchte es europäische und internationale Zusammenarbeit. Beim Vermögen und hier besonders bei den Liegenschaften gibt es sicherlich Reserven. Dies sollte die Staaten aber nicht davon abhalten, sich auch die Effizienz der Sozialsysteme anzusehen. Denn es geht bei den Umwelt- oder auch Vermögenssteuern primär um eine bessere Finanzierung vorhandener Leistungen - wodurch dann die Abgabenbelastung der Arbeit reduziert, Beschäftigung erhöht und damit auch die Armut reduziert werden kann.

Die Arbeitslosigkeit in der Europäischen Union war lange Zeit konvergent, im Gefolge der Finanz- und Wirtschaftskrise reißen auch innerhalb der Eurozone riesige Unterschiede zwischen Norden und Süden auf. Braucht es mehr sozialen Zusammenhalt?

Es stellt sich die Frage nach der europäischen Verantwortung für diese Entwicklung. Können wir uns damit zufrieden geben, dass der Sozialbereich immer noch Sache der Mitgliedstaaten ist? Momentan gibt die Union länderspezifische Empfehlungen ab, vielleicht wäre es sinnvoll, dass die EU hier noch aktiver tätig wird. Es gibt den Europäischen Sozialfonds, allerdings war die Bereitschaft der Staaten, mehr Mittel zur Verfügung zu stellen, in den Verhandlungen über die neue Finanzperspektive sehr limitiert. Das ist nicht ermutigend.

Die Sozialunion bleibt also eine komplette Utopie?

Nein, niemand kann sagen, wo Europa in zehn Jahren in diesen Fragen ist, vielleicht viel weiter als viele glauben. Aber man wird mehr auf die gemeinsamen sozialen Werte, auf denen Europa beruht, setzen müssen. Die Staats- und Regierungschefs und die Kommission wollen über die "soziale Dimension" der Währungsunion im Herbst beraten. Das Thema wird im Europawahlkampf sicher eine Rolle spielen.

Zur Person: Georg Fischer
Der Ökonom ist Direktor für Analyse, Evaluation und Außenbeziehungen in der Generaldirektion für Arbeit, Soziales und Inklusion der Europäischen Kommission in Brüssel. Zuvor war er seit den 80ern in zwei Ministerien und beim AMS tätig.