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Die andere Ich-Perspektive

Von Stephanie de la Barra

Politik
"Wer bin ich?" Dieser Frage widmen sich viele der jungen Autoren.
© Stephanie de la Barra

In "Wir. Berichte aus dem neuen OE" schreiben Jugendliche über ihr Leben.


Wien. "Ich kann mich noch an den Krieg erinnern, man hörte die Schreie von draußen", schreibt Heda über den ersten Tschetschenien-Krieg. "Immer, wenn die Soldaten kamen, gingen wir in den Keller, in den Bunker. Manchmal verschleppten sie Menschen und folterten sie auf grausamste Weise, das war das Schlimmste." Heda erinnert sich. Das war bevor sie 2002 nach Österreich floh. Heute ist sie 15 Jahre alt und lebt in Wien. Genau wie Nejla.

"Ich bin in Wien geboren. Trotzdem fühle ich mich nicht wie eine Österreicherin. Viele nennen uns ‚Ausländer‘ und sagen: ‚Kehrt wieder in eure Heimat zurück!‘ Das verletzt sehr. Und wenn ich im Sommer in Serbien bin, kommt dasselbe von denen", schreibt Nejla. "Da frag ich mich: Wo ist meine Heimat?"

Hier prallen Realitäten aufeinander. Die beiden Mädchen schreiben diese Worte nicht, weil sie müssen, sondern weil sie dürfen. Das ist kein Schulaufsatz zum Thema "Was ist Heimat?", sondern sie schreiben, was sie denken. So wie es bereits mehr als 1800 in Österreich lebende Jugendliche im Alter von 15 bis 25 Jahren getan haben. Sie schreiben ihre Geschichten auf. Und der Journalist Ernst Schmiederer hilft ihnen dabei.

"Wir. Berichte aus dem neuen OE" heißt das Projekt, bei dem seit Ende 2011 Schüler aus ganz Österreich in Schreib-Workshops an ihren Schulen teilnehmen. In Schulheften mit grünen, blauen, gelben Einbänden schreiben sie handschriftlich nieder, was sie bewegt. Das Ergebnis erscheint dann gedruckt in Buchform. Aktuell mit dem dritten Wien-Band "Was wir wissen", der am 4. Juni präsentiert wurde. Es sind Geschichten über die erste Liebe, Mobbing in der Schule, Mehrsprachigkeit und Rassismus im Alltag. Ich-Geschichten irgendwo zwischen dem Traum vom Frieden und einem Titel als Profiboxer.

Es sind die Geschichten einer Generation, über die in Integrationsdebatten viel gesagt wird, die aber selbst kaum zu Wort kommt. "Der Debattenstand der österreichischen Politik beim Thema Migration hinkt der Realität 15 Jahre hinterher. Hinter dem Begriff Migrationshintergrund verbirgt sich ein Bild dieser Welt, das unserer interkulturellen Realität nicht annähernd gerecht wird", erklärt Schmiederer, der gemeinsam mit dem Team des Blinklicht Media Lab diese Schreib-Workshops organisiert.

Eine Qualifikation oder ein Zustand?

Die Idee entstand ursprünglich aus einem anderen Projekt. Als Schmiederer in den Achtzigerjahren seine Karriere als Magazin-Journalist begann, war es verpönt, aus der Ich-Perspektive zu schreiben. Als lächerlich, naiv wurde das abgetan. Dann, 2007, bekam er die Möglichkeit, mit seiner "Zeit"-Kolumne Österreicher im Ausland und Migranten in Österreich zu porträtieren. Erzählt aus der Ich-Perspektive. Der nächste Schritt war logisch. "Die Idee, Jugendliche in ihrer eigenen Sache zu Wort kommen zu lassen, lag dann nahe."

Wer sich mit Österreichs Jugend beschäftigt, stolpert auch über dieses Wort: Migrationshintergrund. Aber was ist überhaupt damit gemeint? Ist es eine Qualifikation, ein realer Zustand? Für Josef, 15, ist es mehr eine Betitelung. "Ich fühle mich nicht wie ein Ausländer. Ich bin nur einer mit Migrationshintergründen; nicht mehr und nicht weniger", schreibt er nüchtern.

Oder wie Yuria (15), mit Wurzeln in Brasilien, es ausdrücken würde: "Ich komme aus . . ? Naja, so genau weiß ich es nicht. Will ich es überhaupt wissen?" Lukas (16) hat darauf eine Antwort für sich gefunden: "Es zählt nicht, von wo man kommt."

In den "Berichten aus dem neuen OE" geht es nicht darum, die Schüler in einer Kategorie zu fassen, sondern sie als Menschen zu begreifen. Mit Bedürfnissen, Ängsten und Zukunftsvisionen. Mit oder ohne Migrationshintergrund.

Marko (15) hat schon konkrete Pläne: "In zehn Jahren wohne ich mit meiner Familie in einem Haus mit einem sehr großen Garten. Ich bin der Leiter einer großen Bank und habe zwei Privatinseln. Eine Yacht besitze ich auch, meine Frau, meine zwei Kinder und ich werden in Dubai leben." Über seine derzeitige Lebenssituation schreibt er: "Meine Familie sind Roma, ich schäme mich nicht dafür, denn ich bin stolz darauf, wie manche andere Leute. Mein Urgroßvater war im Zweiten Weltkrieg dabei. Als die Nazis nach Serbien kamen, haben sie meinen Urgroßvater in ein KZ mitgenommen. (. . .) Sie hängten ihn mit seinem Orchester auf einen Baum und ließen ihn Musik machen. Danach wurde er nie mehr gesehen."

Aber es sind nicht nur die Familiengeschichten, die bewegen, sondern auch jeder persönliche Gedanke. Viele schreiben über Sport oder Musik, wenn die Umstände schwierig sind. "Ich erblickte am 2. Jänner 1995 das Licht der Welt", schreibt Barbara (18). "Nicht unbedingt die geeignete Metapher, um meine Geburt zu beschreiben, denn ich bin vollblind." Auch bei Barbara war es der Sport, der ihr Antrieb gab. "Mein Selbstbewusstsein steigerte sich, indem ich das Skifahren erlernte." Für Andreas (19) wiederum ist die Musik sein "Lebenselixier".

Im Grunde handeln die Geschichten alle vom Ich. Von einem Ich, das positive Erfahrungen gemacht hat, wie Edita (18), die meint, in Wien habe sie die Möglichkeit, eine gute Schule zu besuchen und eine Arbeitsstelle zu finden. "In Wien stehen mir alle Türen offen. In meinen Augen ist es die Stadt der Bildung. In Bosnien hätte ich diese Möglichkeiten nicht." Oder aber von einem Ich, das auch negative Erfahrungen gemacht hat wie Sümeyra (19): "Ich hasse es, wenn mich Menschen wegen meiner Religion oder meiner Nationalität diskriminieren. Ich würde Österreich gerne als meine ‚Heimat‘ bezeichnen, aber wenn sie das nicht zulassen, werde ich auch nicht dafür kämpfen." Sümeyra stellt die Schlüsselfrage: "Warum versuche ich eigentlich, mich hier anzupassen?"

Ein bisschen Selbsterschaffung

Viel Frust spricht aus den Worten dieser jungen österreichischen Staatsbürgerin. Vor allem, weil sie sich von ihrer Umwelt nicht als solche verstanden fühlt. Die Buchreihe versucht nicht Antworten zu geben, sondern die Lebensrealität einer Generation zu zeigen, die mit Konflikten zu tun hat. In jeder Form. "In den Geschichten geht es immer um die Frage: Wer bin ich?" erklärt Schmiederer. "Indem man diese Frage schreibend beantwortet, erschafft man sich auch selbst." Ein Stück weit bedeutet das auch einen Emanzipationsprozess von der Integrationsdebatte. "Integration meint ja, dass man sich an die Mehrheitsgesellschaft anpassen soll. Die existiert aber in der imaginierten Form nicht."

Seit Beginn des Schreib-Projekts sind bisher vier Bände der Reihe "Wir. Berichte aus dem neuen OE" in der Edition Import/Export erschienen. Zuletzt erschien der zweite Wien-Band mit dem Titel "Wer wir sind. Berichte aus der Landstraße, der Josefstadt und Rudolfsheim-Fünfhaus. Freude. Trauer. Liebeskummer." Nun ist Anfang Juni auch der dritte Wien-Band "Was wir wissen", mit Berichten aus Wiener Berufsschulen, erschienen. Bis zum heurigen Herbst sollen noch drei weitere Wien-Bände folgen.