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Katastrophale Lage in Traiskirchen

Von Jan Michael Marchart

Politik

Volksanwaltschaft und Amnesty International bei einem Lokalaugenschein im Erstaufnahmezentrum.


Wien. Ein Mann humpelt mit einem künstlichen Ausgang tagelang umher. Der Verband müsste längst gewechselt und der Schlauch möglicherweise entfernt werden. Papiere aus dem Spital hat er keine mehr. Er weiß nicht, was mit ihm passiert. Eine im fünften Monat schwangere Frau schläft draußen auf dem Boden. Wie auch 1500 weitere Menschen. Die sanitären Anlagen reichen längst nicht mehr für alle aus und sind daher ständig in Betrieb. "Es riecht fürchterlich."

Diese "unerträglichen" Eindrücke gewann der Rechtsanwalt Franjo Schruiff im Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen, das er als Kommissionsleiter der Volksanwaltschaft am 15. Juli inspizierte. Am Mittwoch präsentierte er sie vor Journalisten. Damals habe man 3828 Menschen dort vorgefunden (zuletzt waren es rund 4500), davon 1588 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Von diesen hatte die Hälfte kein Bett. Die Fälle passieren "mit Wissen der Behörden", sagte Volksanwalt Günther Kräuter (SPÖ).

"In meinen Augensind das Helden"

Erst nach Interventionen eines achtköpfigen Teams wurde der erwähnte Mann mit dem künstlichen Ausgang untersucht. Auch die schwangere Frau kam erst auf Drängen der Volksanwaltschaft ins Spital. Die große Hürde sei die Anmeldung zur Behandlung. "Wer nicht Deutsch oder Englisch kann, schafft es nicht zu dem engagierten und vielsprachigen medizinischen Team", erklärte der Arzt Siroos Mirzaei. An sich sei das Team für 4500 Menschen aber viel zu klein.

Mirzaei erzählte zudem von einer Frau, die in Traiskirchen zwei Wochen lang vergeblich ihren Mann suchte. Dieser wurde aufgrund von Tuberkulose richtigerweise ins Spital gebracht. Die Frau wurde aber wegen der Sprachbarriere erst darüber informiert, als der Arzt selbst als Übersetzer fungierte. Mirazei kritisierte auch die fehlende psychische Behandlung in Traiskirchen, die zwei derzeit Personen verrichten. Zu große Ressourcen würden in die Untersuchung zur Altersfeststellung gesteckt.

Die Volksanwaltschaft will nun das Ärzteteam mit Hilfe von Ärzte-Vereinen in Traiskirchen verstärken. Sie fordert zudem einen Aktionsplan für minderjährige Asylwerber von der Regierung .

Denn die Situation für die zahlreichen unbegleiteten Flüchtlinge sei besonders schwierig. Laut Schätzungen der Volksanwaltschaft befinden sich 3000 in Österreich. Die Hälfte davon im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen. Unbegleitete Kinder und Jugendliche "sind immer die Letzten", sagte Rechtsanwalt Schruiff.

Anahita Tasharofi, Gründerin des Vereins "Flucht nach vorn", berichtete von der Verzweiflung der traumatisierten Jugendlichen. Es hätte bereits Selbstmordversuche und Selbstverletzungen gegeben. Tagsüber hätten sie nichts anderes zu tun, als über die Traumata ihrer Flucht nachzudenken. "Diese Menschen wollen sich integrieren, wollen arbeiten", sagt Tasharofi. "In meinen Augen sind das Helden. Sie haben überlebt." Man müsse ihnen eine Chance geben und sich um sie kümmern.

© WZ Online / Mathias Ziegler

"Gefangen" imZentrum Traiskirchen

In Zentrum gebe es aber kaum Betreuung für die Jugendlichen. Wann Deutschkurse stattfinden, kann laut Volksanwaltschaft selbst die Lagerleitung nicht genau sagen. Viele würden in den Internet-Cafés im Ort Deutsch lernen, sagt Schruiff. "Es gibt kein WLAN auf dem Gelände."

Wegen des Überbelags in Traiskirchen herrsche dringender Handlungsbedarf. Bei Kommissionsbesuchen in anderen Einrichtungen suche man nach einzelnen Menschenrechtsverletzungen. In Traiskirchen stelle sich die Frage: "Welche Menschenrechte wurden nicht verletzt?", sagte der Kommissionsleiter.

Weil die Länder nun die Flüchtlinge direkt übernehmen und seit Mittwoch ein Aufnahmestopp in Traiskirchen gilt, befürchtet Schruiff, dass die im Erstaufnahmezentrum verbleibenden Menschen möglicherweise dort "gefangen" bleiben könnten. Erste Asylwerber wurden jedenfalls am Mittwoch bereits mit Autobussen in andere Quartiere gebracht. Laut Karl-Heinz Grundböck, Sprecher des Innenministeriums, steht man vor zwei Herausforderungen: "Einerseits kommen laufend neue Leute an, die man anderswo unterbringen muss. Andererseits müssen wir Traiskirchen entlasten. Wie schnell das geht, hängt von den verfügbaren Unterkünften in den Ländern ab." Die Zahl der Personen könne dort nur kleiner werden, so Grundböck.

Die Aufbauarbeiten des für Mittwochabend angekündigten Zeltlagers in St. Georgen am Längsee in Kärnten haben noch nicht begonnen. Das Lager für 400 Flüchtlinge liegt zur Hälfte auf einem Quellschutzgebiet. Wann das Lager bezugsfertig ist, blieb offen.

Mikl-Leitner empfiehlt Traglufthallen

Einstweilen empfiehlt Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) den Ländern Traglufthallen zur Unterbringung von Asylwerbern. Sie sieht darin eine Verbesserung zu Containern und Zelten. Bei einem Treffen mit ihrem bayrischen Amtskollegen Joachim Herrmann (CSU) besichtigte sie eine solche Halle nahe München. Bis zu 500 Flüchtlinge finden in der Traglufthalle in Taufkirchen Platz, die Bayern haben sich aber ein Limit von 300 gesetzt. Für das Aufstellen einer solchen Halle ist aber eine Baugenehmigung erforderlich. Mit dem geplanten Verfassungsgesetz der Regierung für ein Durchgriffsrecht für Widmungen könnte der Bund künftig diese Hallen selbst errichten.

Heute werden sich drei Experten der Menschenrechtsorganisation Amnesty International ein Bild von der Situation in Traiskirchen machen. Begleitet werden sie von einem Dolmetscher und dem Ministerium. Die "Wiener Zeitung" hat der Betreuungsfirma "ORS" schriftlich Fragen zu den Vorwürfen der Volksanwaltschaft übermittelt. Die Beantwortung steht noch aus.