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Die neuen Parteibücher

Von Judith Belfkih

Politik

Vom Parteisoldaten zum Quereinsteiger. Was braucht ein guter Politiker heute? Immer noch Leidenschaft und Augenmaß.


Europa befindet sich im Umbruch. Nicht versiegen wollende Flüchtlingsströme und eine immer wieder aufwallende Finanzkrise halten den Kontinent in Schach. Der gesellschaftliche Wandel, den diese fundamentalen Veränderungen mit sich bringen, hat längst die Politik erreicht. Doch sie sind nicht nur Inhalt politischer Entscheidungen, beschäftigen die handelnden Personen nicht nur in Form von Grenzzaundebatten und in der Frage, ob und wie in- und ausländische Banken und ganze Staaten zu retten seien. Die Umwälzungen betreffen auch die Politik selbst.

Einen fundamentalen Wandel erlebt dabei in Österreich gerade der Beruf des Politikers. Noch nie saßen in einer Bundesregierung - unabhängig von der Parteizugehörigkeit - so viele Quereinsteiger wie im aktuellen Kabinett. Die politische Sphäre haben so gut wie alle Polit-Neulinge beruflich zumindest gestreift. Ein Großteil von ihnen hat seine Karriere in einem staatlichen Betrieb gemacht oder sich in politischen Organisationen wie der Gewerkschaft engagiert. Bundeskanzler Christian Kern etwa kommt als ÖBB-Chef bereits aus dem Innersten der Republik. So tiefe Einblicke in die realen Mechanismen des Staates hatten nicht alle Neuzugänge. Auf die eine oder andre Weise tangierten sie die Welt der Politik jedoch alle. Was Kern aber mit aktuellen Ministern wie Thomas Drozda, Hans Jörg Schelling, Sophie Karmasin und Wolfgang Brandstetter auf jeden Fall eint: Sie haben nicht die klassische parteipolitische Laufbahn gemacht. Im Gegensatz zu Werner Faymann.

Sich in einer Jugendorganisation zu engagieren, danach in der Lokalpolitik erste Sporen zu verdienen, dann in eines der Kabinette aufzusteigen, um nach vielen Jahren der politischen Arbeit dann als "ministerabel" zu gelten - so sah lange Zeit der klassische Werdegang eines Ministers aus. Dann aus der Reihe der Minister zum Kanzler und Parteivorsitzenden gewählt zu werden, war die Krönung eines steinigen Politik-Lebens. Vielleicht nur übertroffen von der Rückkehr aus der Pension als Bundespräsident. Ein immer seltener werdender Weg.

Privatwirtschaft oder Politik, so lautete lange die Losung. Entweder - oder. Heute gilt ein Politiker mitunter bereits als etwas weltfremd, wenn er vor seiner politischen Laufbahn nicht auch einmal Erfahrungen jenseits der Politik gesammelt hat. Man müsse die reale Welt da draußen kennen, um sie qualifiziert mitgestalten zu können, steht dabei als relativ junge und nicht unumstrittene These im Raum. Reine Parteisoldaten kommen derzeit kaum zum Zug.

Sind Manager die besseren Politiker? Sind Experten qualifiziertere Staatslenker? Diese Fragen tauchen in jüngster Vergangenheit vermehrt auf. Auch wenn ihre aktuelle Beantwortung sich erst in der Realität zeigen wird müssen, so sagen sie doch einiges über das sich wandelnde politische Verständnis aus. Die Regierende Klasse ist in ganz Europa unter Beschuss geraten. Wahlen quer über den Kontinent zeigen, dass die Bevölkerung sich klar für Veränderung einsetzt und sich daher zu den traditionellen Oppositionsparteien hingezogen fühlt. Als Radikalisierung Europas füllt diese Entwicklung derzeit die Schlagzeilen. Parallel dazu wird über das Ende der Demokratie diskutiert, zumindest ihre Abschaffung durch die Macht der Märkte steht im Raum. Von der Krise der politischen Systeme ist die Rede, Stillstand wird allerorts angeprangert. Die langjährigen Machthaber gelten als die Mitschuldigen an der Misere. Wahlen haben derzeit vor allem die Funktion der Abwahl.

Die Sorge, Politik sei zu unattraktiv geworden, um die besten Köpfe für sich zu gewinnen, entkräften die jüngsten Umbildungen. Obwohl ein Leben in der Politik heute ein beinahe gläsernes ist und jeder politische Kopf damit umzugehen hat, dass alle das Schlechteste von ihm denken, während er an den allerhöchsten moralischen Anforderungen gemessen wird. Möglichst schnell die erste Million verdienen oder uneingeschränkt Macht ausüben - für beides ist Privatwirtschaft besser geeignet als Politik.

Bei politischen Entscheidungen müssen wesentlich mehr Stimmen und Interessen berücksichtigt werden als in der Privatwirtschaft. Hier kocht der Chef - das ist in einem Unternehmen leichter zu realisieren. Dass sich in jüngster Zeit wieder vermehrt Privatpersonen finden, die eine öffentliche Position zu übernehmen bereit sind, lässt die Hoffnung aufkommen, dass hier ein strukturelles Umdenken stattfindet. Gesucht wird als Akteur auf der politischen Bühne nicht länger ein treues Parteimitglied, das die Interessen eben jener Partei am vehementesten zu verteidigen weiß, sondern eine erfahrene und fachlich qualifizierte Persönlichkeit, deren Gesinnung zumindest nicht im Widerspruch mit der Parteilinie steht. Charisma und Fachkompetenz heißen die neuen politischen Parteibücher. Gründe für diese Veränderungen suchen Beobachter einerseits in massiven Nachwuchsproblemen der etablierten Parteien. Und andererseits in der Tatsache, dass in der aktuellen Politik ein selbstreferenzielles System zu Ende zu gehen scheint, in dem es nur um den Erhalt von Macht geht und kaum um Inhalte. Daraus ergibt sich nicht nut für Quereinsteiger die Perspektive, in der Politik wieder etwas bewegen und gestalten zu können. Konkrete Problemstellungen gäbe es genug. Ob und wie diese Hoffnung an realpolitischen Klippen zerschellen und die Trägheit des Systems siegen wird, bleibt abzuwarten.

Die dem politischen Stillstand und dem trägen Parteiensumpf gegenüberstehende Politikverdrossenheit der Bevölkerung relativiert sich zuletzt auch selbst: Denn Menschen wenden sich nicht von der Politik ab, sondern von den Parteien. Die nicht unproblematische politische Dimension, die Soziale Medien derzeit entwickeln, zeigt das ebenso wie die konkret gestalterische Selbstermächtigung vieler Bürger durch Kooperativen, Vereine und Sozialprojekte, mit Hilfe derer sie ihre unmittelbare Lebenswelt maßgeblich mitgestalten. Vielleicht ist es nicht die Demokratie, die am Ende ist, sondern nur die ideologisch eingefahrene Parteipolitik. Was zählt, sind Glaubwürdigkeit und Authentizität. Für welche politische Meinung ein charismatischer Charakterkopf steht, wird dabei immer unwichtiger. Persönlichkeit und Integrität sind auf dem Weg, letztlich starr und dogmatisch gewordene Ideologien endgültig abzulösen.

Was braucht der Politiker heute also? Er braucht das, was immer schon einen guten Politiker ausgemacht hat. Die Definition des Soziologen Max Weber aus dem Jahr 1919 hat seine Gültigkeit hier nicht verloren. Als die wichtigsten Qualitäten beschreibt er die unbedingte, aber sachliche Leidenschaft, ein hohes Verantwortungsgefühl und eine gesunde Distanz zu den Dingen und Menschen. Was sich gerade verändert, ist also nicht das Anforderungsprofil, sondern der bis zum Amt beschrittene Weg.

Die Kaderschmieden der Parteien sind nicht mehr geeignet, ausreichend qualifizierte Führungspersönlichkeiten hervorzubringen. Der Auftrag, den diese dann zu erfüllen haben, ist derselbe geblieben und bedeutet mit Weber "ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich".