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Weil es immer schon so war

Von Marina Delcheva und Katharina Schmidt

Politik

Erste Erkenntnis des VfGH: Gesetzesbeugungen bei Wahlkarten-Auszählung sind offenbar seit jeher Usus.


Die Hüter der Verfassung in Amt und Würden.
© VfGH/Achim Bieniek

Wien. Es war immer schon so. Und es hat offenbar nie irgendjemanden gestört. Das ist die Erkenntnis aus den ersten Zeugeneinvernahmen zur Wahlanfechtung der Freiheitlichen vor dem Verfassungsgerichtshof (VfGH), die am Montag über die Bühne gegangen ist.

Die 14 Verfassungsrichter haben ihren gesamten Kalender freigeräumt, um vor dem Angelobungstermin des Bundespräsidenten am 8. Juli noch entscheiden zu können, ob die Bundespräsidentenwahl wiederholt werden muss. Von Montag bis Donnerstag werden insgesamt 90 Vertreter der Bezirkswahlbehörden und Wahlbeisitzer aller Couleurs zu ihren Wahrnehmungen befragt - und so wie es bisher aussieht, gehören Ungenauigkeiten bei der Auszählung der Wahlkarten in einigen Bezirkswahlbehörden zum guten Ton.

Aber der Reihe nach: Nach der knappen Niederlage ihres Kandidaten Norbert Hofer bei der Präsidentenstichwahl am 22. Mai - nur 30.863 Stimmen trennen die beiden Kandidaten laut amtlichem Endergebnis - haben die Freiheitlichen Anfang Juni die Wahl beim VfGH angefochten. Auf 152 Seiten argumentiert ihr Rechtsvertreter, der ehemalige Justizminister Dieter Böhmdorfer, die Stichwahl sei "von Unregelmäßigkeiten überschattet (gewesen), wie man sie in Österreich bei bundesweiten Wahlen in dieser Form bisher nicht gekannt hat".

Diese "Unregelmäßigkeiten" sollen, so heißt es in der Wahlanfechtung, in 94 der 117 Bezirkswahlbehörden vorgekommen sei. Briefwahlkarten sollen schon am Wahlsonntag statt wie gesetzlich vorgesehen am Montagmorgen danach, ausgezählt worden sein. In manchen Behörden sollen die Wahlkarten von nicht befugten Personen und in der Abwesenheit der Wahlbeisitzer ausgezählt worden sein. Und: Die Wahlbeisitzer hätten unterschrieben, dass regelkonform ab Montag, 9 Uhr, ausgezählt worden sei, obwohl in manchen Bezirkswahlbehörden schon am Vorabend ausgezählt worden sei.

Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser

"Ich habe das unterschrieben, weil ich ein unerschütterliches Vertrauen in die Wahlbehörde hatte", sagte etwa eine Wahlbeisitzerin der Freiheitlichen im Bezirk Südoststeiermark. Gelächter im Verhandlungssaal. Ob sie denn nicht im Protokoll gelesen habe, dass sie bezeugt, dass erst am Montag und in ihrem Beisein ausgezählt wurde, will VfGH-Präsident Gerhart Holzinger wissen. "Nein."

Unterschrieben, dass bei der Auszählung alles rechtens war, haben alle am Montag befragten Zeugen. Bei dieser tatsächlich anwesend waren aber nur wenige. Und das Protokoll, das meist von den Vorsitzenden der Bezirkswahlbehörde vorgelegt wurde, hat auch fast niemand gelesen. "Ich habe im Vertrauen, dass alles passt, unterschrieben. Wenn da ein Jurist am Werk ist, wird das ja schon stimmen", sagte etwa die Wahlbeisitzerin der Grünen im Bezirk Innsbruck-Land.

Gefälschte Protokolle, vorzeitige Auszählungen - "Man kann in Österreich ja nicht Bananenrepublik sagen, aber wir sind schon sehr nah dran", kommentierten empörte Besucher und Medienvertreter die Verhandlung. Der lasche Umgang mit den Wahlkarten sorgt auch am Richterpult immer wieder für Kopfschütteln. In der Südoststeiermark wurden die Briefwahlkarten schon am Sonntag fertig ausgezählt. Auch in Villach habe man vorzeitig zu zählen begonnen.

Die befragten Vorsitzenden der Wahlbehörden rechtfertigen ihr Vorgehen damit, dass man am Montag gar nicht fertig geworden wäre mit der Auszählung, angesichts der zahlreichen Wahlkarten. Außerdem seien zwar alle Wahlbeisitzer zur Auszählung eingeladen gewesen, gekommen seien aber nur wenige. "Wenn keine Wahlbeisitzer kommen, können wir auch nicht mehr machen, als sie einzuladen", sagte der Vorsitzende der Bezirkswahlbehörde Kitzbühel. Zudem sei dieses Vorgehen, auch wenn gesetzlich fragwürdig, nicht unüblich.

Die FPÖ-Wahlbeisitzerin in der Südoststeiermark räumte ein, dass sie erst zur Wahlbehörde gefahren sei, nachdem sie am Montagmorgen einen Anruf von der Landespartei bekommen habe, zur Auszählung zu gehen und eventuelle Unrechtmäßigkeiten zu "beobachten". Vor Ort habe man ihr gesagt, es sei alles ausgezählt. "Ich habe zu keinem Zeitpunkt etwas zu beanstanden gehabt", sagte der ÖVP-Wahlbeisitzer in Kärnten. "Es wird sicher alles so gestimmt haben", räumt auch die FPÖ-Wahlbeisitzerin in Villach ein.

Apropos FPÖ-Wahlbeisitzer: Für einige könnte das Vertrauen in die Leiter der Bezirkswahlbehörden ein gerichtliches Nachspiel haben. Denn wie berichtet, ermittelt die Wirtschafts- und Korruptionsstaatswaltschaft (WKStA) nach einer Anzeige des Innenministeriums gegen sechs Bezirkswahlbehörden wegen Amtsmissbrauchs und falscher Beurkundung und Beglaubigung im Amt. Auf Ersteres droht eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren, auf Letzteres stehen bis zu drei Jahre Haft. Nun hat aber das Innenministerium eine weitere Anzeige bei der WKStA eingebracht: Unter Bezugnahme auf die Wahlanfechtung der FPÖ werden die Staatsanwälte ersucht, die Ermittlungen gegebenenfalls auch auf die 94 darin erwähnten Bezirkswahlbehörden auszuweiten.

WKStA ermittelt nun auch auf Basis der Wahlanfechtung

Die FPÖ hat also mit ihrer Anfechtung auch die eigenen Beisitzer ordentlich in die Bredouille gebracht. Auch deren Aussagen vor dem VfGH werden die Mitarbeiter der WKStA wohl interessieren. "Es wird geprüft werden, ob die Aussagen vor dem VfGH für das Verfahren relevant sind", meint dazu Sprecherin Ingrid Maschl-Clausen zur "Wiener Zeitung". Mehr wollte sie dazu mit Verweis auf die laufenden Verfahren nicht sagen.

Auch der Leiter der Wahlbehörde im Innenministerium, Robert Stein, der als Parteienvertreter an der Verhandlung teilnimmt, wollte das laufende Verfahren nicht kommentieren. "Aber Sie können sich ja selbst ein Bild davon machen", sagte er. Er wollte etwa von einer Wahlbeisitzerin wissen, warum sie ein Protokoll unterschrieben hat, das sie nicht gelesen hat. "Naja, weil das halt so ist."

"Wir haben einstimmig beschlossen, dass wir um 9 Uhr am Montag nicht anwesend sein müssen", sagt ein Wahlbeisitzer aus Schwaz in Tirol. Der Wahlleiter habe vorgeschlagen, dass es effizienter sei, dass Beamte auszählen und ob die Wahlkommission einverstanden sei. "Dann haben wir alle die Hand gehoben und mussten nicht kommen." "Sie können also nur vom Hörensagen bestätigen, wann ausgezählt wurde?", fragte der Richter. "Ja, da haben Sie recht." "Ich kenne mich im Wahlrecht ja nicht aus. Ob das alles rechtmäßig abgelaufen ist, kann ich nicht beurteilen", sagte er. Er habe auch, wie fast alle Wahlhelfer, die am Montag befragt wurden, das Protokoll nicht gelesen. Schmunzeln und Kopfschütteln in den Besucherreihen.

Richter Georg Lienbacher fragte nach: "Nur damit ich es richtig verstehe: Wenn Sie das Protokoll umgedreht hätten, hätten Sie es lesen können. Aber das haben Sie nicht gemacht?" "Nein, aber das macht niemand." Er habe gedacht, er bezeuge nur seine Anwesenheit, meinte der Zeuge.

Bis inklusive Donnerstag sollen nun noch die Vertreter der Bezirkswahlbehörden aus Landeck, Wien-Umgebung, Hermagor, Hollabrunn, Wolfsberg, Freistadt, Liezen, Bregenz, Kufstein, Graz-Umgebung, Gänserndorf, Leibnitz, Völkermarkt und Reutte befragt werden. Kommende Woche sind die Vertreter der Parteien an der Reihe. Neben der FPÖ sind das auch die Grünen und die Vertreter der Bundeswahlbehörde.

FPÖ Wahlbeisitzer glauben nicht an Manipulation

Die Frage, die die Verfassungsrichter beantworten müssen, lautet: Hatten die offensichtlichen Verstöße gegen das Wahlrecht, die offenbar in vielen Bezirkswahlbehörden gelebte Praxis sind, Auswirkungen auf das Ergebnis der Stichwahl? Sämtliche Experten gehen davon aus, dass - sollten die Richter diese Frage mit "ja" beantworten - die gesamte Wahl noch einmal wiederholt werden muss. Allerdings haben die FPÖ-Rechtsvertreter die Zeugen am Montag immer wieder befragt, ob es bei der Auszählung auch zu Manipulationen gekommen sei, die das Wahlergebnis beeinflussen könnten. Und immer wieder verneinten die Befragten, auch die FPÖ-Wahlbeisitzer.

Wissen: Verfassungsgerichtshof

Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) entscheidet über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen beziehungsweise deren verfassungskonforme Anwendung. Das Gremium besteht aus 14 Personen: einem Präsidenten, einer Vizepräsidentin sowie zwölf Mitgliedern. Außerdem gibt es sechs Ersatzmitglieder.

Mitglied oder Ersatzmitglied des VfGH kann nur werden, wer das Studium der Rechtswissenschaften abgeschlossen und mindestens zehn Jahre einen einschlägigen Beruf (wie Richter, Staatsanwalt, Rechtsanwalt, Universitätsprofessor) ausgeübt hat. Die Ernennung erfolgt durch den Bundespräsidenten, der allerdings an die Vorschläge anderer Staatsorgane gebunden ist: Der Präsident, der Vizepräsident, sechs weitere Mitglieder und drei Ersatzmitglieder werden von der Bundesregierung vorgeschlagen. Drei Mitglieder und zwei Ersatzmitglieder werden vom Nationalrat vorgeschlagen. Drei Mitglieder und ein Ersatzmitglied werden vom Bundesrat vorgeschlagen.

Bestimmte Staatsfunktionen schließen eine Mitgliedschaft oder Ersatzmitgliedschaft im Verfassungsgerichtshof aus (zum Beispiel Mitglied der Bundesregierung, der Landesregierungen, Mitglieder des National- und Bundesrats sowie des EU Parlaments).

Anders als die Mitglieder des Verwaltungsgerichtshofes sind die Mitglieder und Ersatzmitglieder des Verfassungsgerichtshofes keine Berufsrichter, sondern üben ihre Funktion als "Nebenamt" aus, sind dabei aber an keine Weisungen gebunden. Die Mitglieder erhalten für die Ausübung ihrer Funktion monatliche Bezüge. Die Amtszeit der Mitglieder und Ersatzmitglieder endet mit Ablauf des Jahres, in dem sie ihr 70. Lebensjahr vollendet haben.

Für die Beschlussfähigkeit ist die Anwesenheit des Vorsitzenden (Präsident oder Vizepräsidentin) und mindestens acht stimmführender Mitglieder erforderlich, in bestimmten Fällen genügt auch die Anwesenheit von vier stimmführenden Mitgliedern. Beschlüsse werden mit absoluter Mehrheit gefasst, wobei der Vorsitzende grundsätzlich nur bei Stimmengleichstand mitstimmt.

Die Angelegenheiten der Justizverwaltung des Verfassungsgerichtshofes werden vom Präsidenten besorgt.