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Der nächste Kampf um Österreich

Von Walter Hämmerle

Reflexionen
Rotweißrote Zerreißprobe...
© Grafik: Irma Tulek

Längst schien entschieden, was Österreich ist: Heute tobt erneut ein Kampf um die Identität Österreichs.


"Zwei Österreich, zwei Kulturen stehen sich in den österreichischen Landen gegenüber, die um Österreichs Zukunft kämpfen", schreibt der katholische Querdenker, Kunsthistoriker und Publizist Friedrich Heer 1981 in "Der Kampf um die österreichische Identität". Diese Auseinandersetzung tobt seit Jahrhunderten und bis ins Hier und Heute.

Dabei hatte es kurz einmal den Anschein, als ob die Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik diesen Kampf ein für alle Mal entschieden hätte, die alten Wunden verheilt, die Gräben zwischen den Lagern endlich überwunden wären - und zwar im Sinne einer kollektiven Identität als österreichische Nation. Und es gab zudem Gründe zu vermuten, dass die schleichende Erosion nationalstaatlicher Institutionen seit den 1990er Jahren durch den Aufbau supranationaler Identitäten - vom Europäer bis zum Weltbürger - ersetzt, zumindest aber ergänzt werden könnte. Schleichend und kontinuierlich, und - dies vor allem - ohne eruptive Brüche im ständigen Prozess politischer Identitätsfindung.

Diese Annahmen, so viel ist heute sicher, haben sich als Wunschdenken erwiesen, nicht nur in Österreich, sondern quer durch Europa und darüber hinaus. Für Österreich bedeutet dies, einen besonderen Aspekt seiner Geschichte ein weiteres Mal zu durchleiden: den Kampf um die österreichische Identität. Und wenn es ein Verdienst dieses überlangen Wahlkampfs um das höchste Amt im Staat gibt, dann das, das Fortwirken dieser langandauernden Auseinandersetzung bis in die Gegenwart wieder sichtbar zu machen. Im Kern ist der Wahlkampf zwischen Alexander Van der Bellen und Norbert Hofer um das Amt des Bundespräsidenten tatsächlich eine Fortsetzung dieser unseligen Identitätssuche, die Österreich seit dem 16. Jahrhundert heimsucht.

Vier "Invasionen"

Wie dieser Kampf in der Vergangenheit aussah, beschreibt Friedrich Heer (1916-1983) anschaulich. Österreich ist für ihn ein Spielball von Mächten und Kräften, geistigen wie politischen, die von außen einwirken, das Land und seine Bürger spalten und bei der Suche nach einer eigenen, eigenständigen Identität verwirren.

Vier prägende kulturelle, religiöse oder politische "Invasionen" beschreibt Heer: Erstens, die Reformation, die im 16. Jahrhundert von Norden, aus Deutschland, nach Österreich eindringt; zweitens, die katholische Gegenreformation des 17. und 18. Jahrhunderts, die vor allem spanische und italienische Einflüsse aufgreift, die zum einen mithelfen, den österreichischen Barock hervorzubringen, gleichzeitig jedoch das Land geistig abschotten. In der Folge sind es dann, drittens, die Ideen der westeuropäischen Aufklärung, die Mühe haben, die hohen Mauern dieser geistigen Isolation zu überwinden. Schließlich, viertens, die Unterwanderung der von Anfang an brüchigen Identität des Vielvölkerreichs durch den Deutschland-Glauben großer Teile seiner deutsch-österreichischen Bürger.

Für Heer ist es dieser Deutschland-Glaube, der im 19. Jahrhundert die geistigen Vorarbeiten für den Untergang des multinationalen Staats in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert leistet.

"Vom 16. bis zum 20. Jahrhundert", so fasst Heer die tragische Geschichte vom Scheitern Österreichs zusammen, "stehen sich in den österreichischen Landen zwei (in besonderen Krisenzeiten drei, ja vier) politische Religionen gegenüber". Vom 16. bis zum 20. Jahrhundert - bis 1938/45 - tobt in Österreich ein Glaubenskampf, der die Basis aller Identitätsschwierigkeiten, aller Tragödien in und aus Österreich bildet. "Europäische Geschichte ist ein Kampf, in dem gegnerische Glaubensformen widereinander kämpfen", schreibt Heer - und Österreich, so kann man ergänzen, ist seine bevorzugte Bühne.

Nur kurze Auszeit

Dabei schien es bereits, als habe sich Österreich aus dieser Zerreißprobe befreien können. Es dauerte zwar, aber einige Jahrzehnte nach Gründung der Zweiten Republik begannen sich die Österreicher mit ihrem Österreichertum zu arrangieren; nicht sofort und längst nicht alle, aber dank wachsenden Wohlstands immer mehr. Dabei halfen die geostrategische Lage und der Beschluss der Neutralität 1955, die Österreich zwar zwischen den beiden großen militärischen Blöcken positionierte.

Das Land selbst jedoch ließ keinen Zweifel daran, dass es sich politisch und kulturell dem Westen zugehörig fühlte. Mittlerweile erhält man europäische Spitzenwerte, wenn es um den Stolz auf das eigene Land geht.

Tatsächlich ist die Deutsch-Gläubigkeit so vieler Österreicher, die das Land nach 1848, 1866 und bis 1938/45 wie ein Fieber erfasst hatte, heute gründlich getilgt - vor allem politisch, aber auch kulturell, nachdem das Religiöse seine prägende Kraft schon länger verloren hat. Nur sieben Jahre tatsächlicher Schicksalsgenossenschaft haben ausgereicht, eine jahrhundertealte Sehnsucht nach Vereinigung mit den "deutschen Brüdern" auszulöschen.

Die Linke wie die Rechte, die beide in der Vergangenheit (und Teile der extremen Rechten bis in die Gegenwart) dieser Sehnsucht nachhingen, hatten mit dem Kapitel abgeschlossen. Und wenn es dafür eines letzten Beweises bedurft hätte, dann ist es die Selbstverständlichkeit, mit der Van der Bellen und Hofer auf ihren Plakaten und in Reden die "Heimat" ins Spiel bringen.

Doch damit hat es sich auch schon mit den Gemeinsamkeiten. Tatsächlich hat sich dieser Wahlkampf wie fast kein anderer zuvor (die beiden vergangenen Wiener Landtagswahlen vielleicht ausgenommen) zu einer Auseinandersetzung um "Österreich", seinen Kern und sein Wesen entwickelt. Zur Wahl am 4. Dezember stehen nicht, wie es in einer Demokratie normal wäre, zwei politische Konzepte, sondern - schon wieder - zwei politisch-kulturelle Glaubensbekenntnisse für dieses Land und seine Rolle in Europa. Der Kampf um die österreichische Identität ist nicht zu Ende, er hatte sich nur eine kleine Auszeit genommen.

Die Schlachtfelder, auf denen der Kampf nun ausgetragen wird, sind das Resultat der rasanten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung der vergangenen 10, 20 und 30 Jahre. Digitalisierung und Globalisierung haben die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die nationalstaatlichen Steuerungsfähigkeiten ausgehebelt; das eine Glaubensbekenntnis sieht im europäischen Integrationsprozess die Chance, ein Mindestmaß an politischer Gestaltungskraft zurückzugewinnen; das andere will die Wiedererrichtung nationaler Grenzen, um die Kontrolle zurückzugewinnen.

Im Zugang zu Europa, im Umgang mit kultureller und ethnischer Vielfalt werden die Brüche sichtbar, wenngleich nicht frei von inneren Widersprüchen, die vor allem an den Rändern ins Auge stechen. Etwa wenn die extreme Rechte ein auf sein christliches Erbe verengtes Europa im Mund führt, sobald es um die Abwehr muslimischer Einwanderer geht; oder wenn radikale Linke Grenzen für Menschen ablehnen, jene für Güter aber neu errichten möchten. Argumentative Konsistenz ist im beginnenden 21. Jahrhundert ein Luxus, den sich die Politik nicht länger leisten will.

Europäische Krisen

Dieser Glaubenskampf erreicht Europa wie Österreich zur schlechtestmöglichen Zeit, obwohl es zuletzt keine gute Zeit für eine solche Auseinandersetzung gegeben hätte. Entgegen dem vorherrschenden Urteil waren die Veränderungen im Europa der letzten Jahre enorm. Die Nullerjahre brachten den Euro zum Anfassen, 2004 erfolgte die bisher größte EU-Erweiterung um zehn Staaten, durch die Österreich wieder zurück ins geografische Herz des Kontinents rückte; und im Kampf gegen die Schulden- und Eurokrise ab 2009 beschleunigte sich die wirtschafts- und finanzpolitische Integration der Eurozone in einem ungeahnten Ausmaß. Die Vorstellung, dass die Staaten selbst bestimmen, wieviel Geld sie wofür ausgeben, hat sich erledigt.

Diese Verschiebungen haben weder die Zentrale in Brüssel noch die Eliten in den EU-Hauptstädten wirklich verarbeitet. Und in den Staaten selbst haben diese Entwicklungen die Gräben zwischen Europaphilen und Europaskeptikern weiter vertieft. Für die einen ist der Nationalstaat der Garant für Demokratie, für die anderen passen dessen Strukturen nicht mehr zu den Problemen von Globalisierung und Digitalisierung, weshalb diese Hälfte der Bürger in einer Europäisierung der Demokratie die einzige Chance sieht, den Primat der Politik zurückzugewinnen. Dieser Konflikt zieht sich quer durch alle Politik. Und Alexander Van der Bellen und Norbert Hofer sind die beiden Speerspitzen dieser Auseinandersetzung.

Natürlich sind die alten Lager zerfallen, haben neue Akteure die politische und kulturelle Bühne betreten, dennoch gibt es neben etlichen Brüchen auch einige Kontinuitäten. Die Erben der drei großen politisch-kulturell-religiösen Glaubensrichtungen, wie Heer sie genannt hätte, bestimmen in Form von Sozialdemokratie, Christdemokraten und Freiheitlichen nach wie vor die politische Landschaft. Die Sehnsucht nach und die Heilserwartungen an ein Aufgehen Österreichs in einem größeren Deutschland waren in allen drei von Beginn an, wenngleich unterschiedlich stark verankert. Die Idee eines übernationalen Österreich, dessen historische Aufgabe in der Überwindung der nationalen Antagonismen seiner zahlreichen Ethnien liegen solle, war hier nicht einmal zu Zeiten der Monarchie mehrheitsfähig, von der Zeit nach 1918 gar nicht zu reden.

Anschluss-Sehnsucht

Als "Deutsche" fühlten sich auch praktisch alle Proponenten der Ersten Republik, Christlichsoziale wie Sozialisten; das galt auch für Dollfuß und Schuschnigg, die der Demokratie 1933/34 blutig das Ende bereiteten und stattdessen einen katholisch-klerikalen Ständestaat errichteten, was die Sehnsucht nach einem Anschluss an Deutschland - ungeachtet dessen, dass dort bereits Hitler an der Macht war - bei der nun verfolgten Sozialdemokratie nicht minderte. Joseph Roth, Jude, Monarchist und Autor, kommentierte diesen zum Scheitern verurteilten Versuch, aus Österreich nach Fasson des Ständestaats eine Nation zu formen, in der "Kapuzinergruft" (1938) so: "Österreich ist kein Staat, keine Heimat, keine Nation. Es ist eine Religion. Die Klerikalen und klerikalen Trottel, die jetzt regieren, machen eine sogenannte Nation aus uns; aus uns, die wir eine Übernation sind, die einzige Übernation, die in der Welt existiert hat."

Wirklich verstanden hat Roths Vision immer nur eine Minderheit, sogar der heute verklärte, in Wirklichkeit aber vielfach gescheiterte Kaiser Franz Joseph I. fühlte sich zeit seines langen Lebens als deutscher Herrscher. Nach 1945 versöhnten sich Christ- wie Sozialdemokraten mit ihrem Los, Österreicher sein zu müssen - und entdeckten schnell die damit verbundenen Möglichkeiten. Zum ersten Mal in seiner Geschichte entwickelte sich ein breiter Konsens über die Identität von Land und Leuten. Nur das ehemalige deutschnationale Lager, das in Teilen der heutigen FPÖ fortbesteht, wurde auch in der Zweiten Republik von Phantomschmerzen über das verlorene "deutsche Vaterland" heimgesucht.

In den 1990ern - gleichzeitig mit der Europäisierung des Landes und der anderen Parteien - begann sich die FPÖ als Österreich-Partei zu positionieren, ohne ihre deutschnationalen Wurzeln im Hintergrund zu kappen. Während SPÖ, ÖVP und längst auch die Grünen, die bei der EU-Volksabstimmung 1994 noch für ein Nein warben, zunehmend die Notwendigkeit einer übernationalen Integration Österreich in den Vordergrund rücken, setzt die FPÖ auf einen Patriotismus, der vor allem in Wahlkampfzeiten immer wieder die Grenze zum Chauvinismus übertritt. Die einst eifrigsten Gegner einer eigenständigen Identität Österreichs sind heute die lautesten Kämpfer für ein enggeführtes Österreichertum in Abgrenzung zu allem Fremden.

Radikale Umwertung

Diese fast radikale Umwertung aller alten Werte bei der FPÖ innerhalb von zwei Jahrzehnten ist für sich schon atemraubend. Übertroffen wird sie nur noch von einer jüngsten Entwicklung, die nicht zuletzt diesen Wahlkampf um die Hofburg prägt. Schon seit einiger Zeit streckt die FPÖ die Fühler aus zu nationalistischen Gesinnungsgenossen in jenen ehemaligen slawischen Kronländern, auf die sie kulturell einst so herabgesehen hatte; und besonders intensiv ausgerechnet nach Serbien, diesem ehemaligen nationalen Erzfeind. In einem Interview hat Hofer dies nun sogar in eine Strategie gegossen: Als Bundespräsident strebe er ein Bündnis der mittel- und osteuropäischen Staaten an, zum Zweck einer Gegenkraft gegen das die EU dominierende Duo Deutschland und Frankreich.

Ein Bündnis gegen Deutschland! Mitgeschmiedet von Norbert Hofer, dem seine Mitgliedschaft in einer Pennäler-Burschenschaft, die Österreich als Teil der deutschen Nation betrachtet, zum Vorwurf gemacht wird; dessen politische Ahnenreihe über mindestens 100 Jahre - und zumindest bis 1945 - darauf hingearbeitet hat, dass Österreich in Deutschland aufgehe. Zumindest in dieser Hinsicht pfeift die FPÖ auf die alten Traditionen.

Keine Neutralität

Und die anderen tun es den Freiheitlichen nach, wenngleich in genau umgekehrter Weise. SPÖ, ÖVP, auch Grüne und Neos knüpfen an bestimmte Stränge des verschütteten und in weiten Teilen aus dem Bewusstsein verschwundenen Erbes der alten Monarchie wieder an. Zwar bleibt die entscheidende Rolle unbestritten, welche der Nationalstaat für die Etablierung von Demokratie und Freiheits- sowie Bürgerrechten gespielt hat; aber gleichzeitig - und das ist der wieder aufgenommene Faden - ist jetzt wieder überdeutlich, dass eine Beschränkung auf das Nationale keine Antworten auf die Probleme einer durch Globalisierung und Digitalisierung entgrenzten Welt bietet.

Entlang dieser Frontlinie wird heute der Kampf um die österreichische Identität ausgetragen. Es ist dies eine Auseinandersetzung, in der es - dies ist vielleicht das Schlimmste für einen gelernten Österreicher - keine Neutralität gibt, einfach weil ihr Ausgang jeden und alles betrifft.

Dass dieser Kampf so intensiv ausgetragen wird, ist natürlich dem Umstand geschuldet, dass mit Grünen und Freiheitlichen zwei antagonistische Parteien aufeinanderprallen. Polarisierung ist damit unausweichlich, und die Möglichkeiten einer Synthese der Positionen, für die es durchaus Raum gibt, sind verbaut. Auch das gehört zu den sich wiederholenden Tragödien im wiederkehrenden Kampf um unsere Identität.

Hauch von Melancholie

Der Tscheche André Tibal veröffentlichte 1936 ein Buch über Österreich und nannte es einen Essay über die Bildung einer nationalen Individualität, vom 16. zum 18. Jahrhundert: "Während nahezu drei Jahrhunderten bestätigt und behauptet sich der Österreicher als der Feind des Protestanten und des Türken; ohne diese beiden, ist man versucht zu sagen, würde er nicht existieren."

Dies ist ein besorgniserregender, ja ein furchteinflößender Gedanke: Braucht Österreich tatsächlich einen Gegner, einen äußeren Feind, um sich seiner eigenen Identität gewiss zu sein? Einst Protestanten und Türken, und heute Islam und "Brüssel" als Chiffren für einen Prozess, der Grenzen öffnet und die so lieb gewonnene und schwer errungene nationale Souveränität wieder in Frage stellt?

Durch Heers Werk zieht sich wie ein Roter Faden die Melancholie, die einen befällt, wenn man die Vergangenheit im Konjunktiv betrachtet: Was hätte aus diesem Alt-Österreich mit seiner ethnischen und kulturellen Vielfalt inmitten Europas nicht alles werden können, wenn es sich nicht durch eigene Dummheit und Engstirnigkeit - im Verein mit äußeren Kräften, die dem Land nichts Gutes wollten - selbst zerstört hätte? Womöglich am Ende ein früher Vorläufer für das Europa, an dem wir nach wie vor bauen. Stattdessen stehen sich in Österreichs Landen - und nicht nur hier - wieder zwei politisch-kulturelle Religionen gegenüber.

Walter Hämmerle ist promovierter Politikwissenschafter und stellvertretender Chefredakteur der "Wiener Zeitung".