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Die Dilemmata des Christian Kern

Von Jan Michael Marchart

Politik
© photonews.at/Georges Schneider

Die SPÖ geht geschwächter als 2000 in die Oppositionsjahre. Christian Kern muss vor allem seine Partei auf Linie bringen. Eine Analyse.


Wien. Es herrschte plötzlich Eintracht. Christian Kern und Hans Peter Doskozil marschierten vor zwei Wochen nebeneinander zum Bundesparteivorstand. Wenige Stunden davor ging die Wahl für Kern und seine Roten verloren und ein verkorkster Wahlkampf zu Ende. Und die SPÖ war damit der Opposition bereits ungewohnt nahe gekommen.

Vielleicht drängte sich Kern auch deshalb etwas dichter an jenen Parteigenossen, mit dem zumindest in der Außenwahrnehmung nicht immer alles reibungslos verlief, der aber (laut OGM/APA-Index) über die besten Vertrauenswerte verfügt: Hans Peter Doskozil. Der Verteidigungsminister sollte in der Migrationsfrage das rote Gegenstück zur restriktiven Politik von FPÖ und ÖVP sein - um sich dann, mit verbalem Geleitschutz des burgenländischen Landeshauptmanns Hans Niessl, Schwarz und Blau in der wichtigsten Debatte des Wahlkampfs immer stärker anzunähern und er unterlief manchmal auch Kerns Kurs.

Einen von Doskozil initiierten "Panzereinsatz" nahe dem Brenner musste Kern zurückpfeifen und einen diplomatischen Streit mit Italien kalmieren. Ausgerechnet Kerns Kontrahent, ÖVP-Chef Sebastian Kurz, gab dem "Standard" gemeinsam mit Doskozil mitten im Wahlkampf ein Doppelinterview. Dort bezeichnete er Doskozil als "Partner" in Migrationsfragen. Seither wurde Doskozil als Kern-Nachfolge gehandelt. Er galt vor den schwarz-blauen Koalitionsgesprächen als Verbinder mit ÖVP und FPÖ. Kein Partner war er für Kerns Ansinnen, als Zweiter in die Opposition gehen zu wollen. Dem entgegnete Doskozil, dass das "mit allen Mitteln" verhindert werden müsse.

Das gemeinsame Auftreten von Kern und Doskozil kann wohl als symbolhaft für die nächsten Jahre verstanden werden. Von Kern war es wohl als Signal an die Partei gedacht, dass er auch bei den manchmal aus der Reihe tanzenden Genossen letztlich Unterstützung findet. Denn Kern muss die Partei hinter sich vereinen, die Führungsperson markieren, um Kritikern die Argumente zu nehmen, dass er als Parteiführer ungeeignet wäre, die gebeutelten Roten in der Opposition wieder aufzurichten. Und das in einer schwächeren Position als 2000, weil sie weniger als ein Drittel der Abgeordneten stellen und Verfassungsmehrheiten nicht mehr abwehren können.

Dazu gesellt sich Parteiarbeit. Der baldige Ex-Kanzler braucht als Folge der Causa Silberstein einen neuen Parteimanager, und die Parteizentrale in der Löwelstraße muss neu aufgestellt werden. In Wien läuft ein Machtkampf um die Nachfolge von Bürgermeister Michael Häupl, den Kern nicht ignorieren sollte. Im Burgenland hat sich längst eine eigene Landespartei etabliert, die meist gegen als mit der Bundespartei arbeitet. Und in Kärnten steht im nächsten Jahr eine richtungsweisende Wahl an, bei der es darum geht, Landeschef Peter Kaiser gegen eine wiedererstarkte FPÖ zu verteidigen. Das heißt: Kern kann sich nicht nur auf seine Rolle als Oppositionsführer konzentrieren. Er muss auch seine Partei in den Griff bekommen und eine Linie definieren, die er vorgibt. Und auch durchhält.

Viel zu häufig hatten Parteifreunde und Politikbeobachter nämlich das Gefühl, Kern würde nicht den Ton in der Partei angeben, sondern stets reagieren, aber nicht agieren. Im Wahlkampf sei Kern zu sprunghaft gewesen, von einem Thema und einer Rolle zur nächsten gehüpft. Vom Unternehmerfreund bis zum Klassenkämpfer sei alles dabei gewesen.

Auch in der Migrationspolitik blieb Kern lange vage ("Anzahl der Flüchtlinge auf ein Niveau zu reduzieren, das Integration ermöglicht"), um dann mit der ÖVP gemeinsam etwa das Burkaverbot zu beschließen. "Wir haben lange die Position gewendet und gedreht, bis am Ende die Menschen nicht mehr ganz verstanden haben, was wir eigentlich wollen", sagte Kern Anfang dieser Woche in der "ZiB 2".

Vage blieb es auch nach der Wahl. Kern wich erneut von einer eigenen Ansage ab, als Zweiter umgehend in die Opposition gehen zu wollen. Wohl auch, weil der Druck auf ihn stärker wurde. Was das Kanzleramt angeht, wollten vor allem die mächtigen Vorfeldorganisationen, Gewerkschaft und Arbeiterkammer, wieder mitreden. Nicht nur Doskozil, auch andere Funktionäre wollten die SPÖ in einer Koalition halten, weil den Sozialpartnern sonst die Demontage drohen könnte.

Deshalb erhöhten Gewerkschaft und Kammer den Druck auf Kern, auch die umstrittene Variante mit Blau nicht auszuschließen. Das entfachte wieder den Streit darüber, wie es die SPÖ mit der FPÖ halten sollte. Kern wird es in jenen Tagen an Einflüsterern nicht gemangelt haben, gemäß dem Bild von Engel und Teufel auf der Schulter.

Auf der einen Seite unter anderem die Gewerkschaft, auf der anderen vor allem die Wiener SPÖ, die sich vehement öffentlich gegen eine Öffnung Richtung Blau aussprach. Mag sein, dass sich Kern durch Volten und Unklarheiten nach der Wahl selbst beschädigte, er wurde aber nicht desavouiert.

Im Gegenteil, das SPÖ-Präsidium bestätigte ihn einstimmig. Sich komplett gegen die Vorfeldorganisationen der SPÖ zu stellen, hätte Kern vielleicht den Parteichef gekostet. So musste er nur ein paar Tage Schlagzeilen über einen möglichen Bruch der Vranitzky-Doktrin überstehen. Außerdem muss Kern Arbeiterkammer und Gewerkschaft für die Oppositionsjahre hinter sich vereinen. Er wird sie mehr den je brauchen. Aber der Reihe nach.

Wie erwartet, geht die SPÖ in die Opposition. Für viele in der Partei ist das nun ein Kulturschock, für einen Apparat, der über Jahrzehnte die Geschicke des Landes innehatte. "Alle, die am Wahlabend gejubelt haben, werden jetzt erst sehen, was es heißt, wenn man von Informationen abgeschnitten ist, keine Ministerien mehr hat, die auch Know-how entwickeln, und die Möglichkeit bieten, in den Medien zu sein", sagt ein einflussreicher Genosse hinter vorgehaltener Hand. "Es ist ein Unterschied, wenn man als Minister Themen vorgibt oder als Oppositionspartei welche forciert."

Es sind vor allem strukturelle Fragen, die Kern in der Opposition klären muss. Der rote Parlamentsklub muss sich vom koalitionären Mehrheitsbeschaffer zum zur eigenverantwortlichen Ideenschmiede entwickeln. Die Abgeordneten, die von den Strukturen der Ministerien profitierten, sind nun weitgehend auf sich allein gestellt. Deshalb könnte auch die Rolle der Arbeiterkammer und Gewerkschaft als Denkfabrik wieder wichtig werden. Denn es gibt keine Regierungsvorlagen mehr, an denen die Abgeordneten gemeinsam mit Klub- und Ministerexperten und den Bereichssprechern der eigenen und im Spiegel mit der anderen Regierungsfraktion arbeiten können.

In der Opposition kann die SPÖ nur mit Eigeninitiativen wie alternativen Gesetzentwürfe, Kritiken und Abänderungsanträgen im Parlament auffallen. Durch die begrenzte Aufmerksamkeit in der Opposition wird sich die SPÖ auch auf einige wenige Themenkonzentrieren müssen. Hier wird unter Genossen der Erhalt des Sozialstaats oft als Beispiel genannt.

Schwerer als seine Vorgänger in der Opposition ab 2000 wird es Kern aber sicher haben. Die Partei stellt weniger als ein Drittel der Abgeordneten und hat keine Sperrminorität bei Verfassungsgesetzen mehr. Dieses Vetorecht ging zwar bereits 2008 verloren, doch bisher kam dann immer eine rot-schwarze Regierung heraus. Zum ersten Mal kann eine der beiden Großparteien keine Verfassungsänderungen verhindern. Schwarz-Blau ab 2000 brauchte immerhin noch die SPÖ für Zwei-Drittel-Materien, diesmal reichen die Neos.

Das Bündnis Schwarz-Blau-Pink ergibt zudem eine Zweidrittelmehrheit mit wirtschaftliberaler Prägung. Damit ließe sich die Rolle der Sozialpartner beschneiden und eine "Schuldenbremse" in die Verfassung schreiben. Durch die fehlende Sperrminorität wären der SPÖ hier die Hände gebunden. "Wir haben keine exekutive Gewalt mehr", fasst ein roter Abgeordneter zusammen.

Die erste außerparlamentarische Aufgabe für Kern lässt auch nicht lange auf sich warten. Bereits im Jänner wird die Nachfolge in Wien geregelt. Dann gibt Bürgermeister Michael Häupl seinen Vorsitz ab. Das ist insofern bedeutend, da 22 Prozent aller SPÖ-Wähler diesmal aus Wien kamen. Die Sozialdemokraten brauchen Wien - und Kern braucht Wiens Bürgermeister. Häupl war zuletzt nicht mehr so ganz die große Hilfe, als er mitten im Wahlkampf seinen Rücktritt erneut ankündigte. Ein Dilemma von vielen.