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Gekommen, um zu lernen

Von Petra Tempfer

Politik

Schulschluss an der Oskar Spiel Schule im 15. Bezirk in Wien: 98 Prozent der Volksschüler haben hier Migrationshintergrund - sie lernen mithilfe der Individualpsychologie nicht nur Deutsch, sondern werden auch auf sozialer Ebene unterrichtet.


Wien. Ist ein islamisches Fest wie das Fastenbrechen, kann es sein, dass nur sehr wenige Volksschüler in die Oskar Spiel Schule im 15. Bezirk in Wien kommen. Die Gänge mit den bunten Bleistiftzeichnungen und Fotos lachender Kinder sind dann fast leer. In den Klassenzimmern lässt nur die Anzahl der kleinen Holzsessel die eigentliche Schülerzahl erahnen. 98 Prozent der Kinder haben hier Migrationshintergrund, viele sind aus Kriegsgebieten geflüchtet. Der Großteil ist muslimisch, ein kleiner Anteil ist katholisch, serbisch, syrisch oder bulgarisch orthodox.

Die öffentliche Volksschule spiegelt die Gesellschaft des Schulsprengels wider. Eine der Hauptaufgaben ist, die Kinder Deutsch zu lehren - mindestens genauso wichtig sei aber, die soziale und emotionale Ebene intensiv zu fördern, sagt Direktorin Ulrike Madzar. Und zwar mithilfe der Individualpsychologie, deren Mitinitiator Oskar Spiel (1892-1961) als Namensgeber der Schule fungierte.

Innere Entwicklung wird in den Mittelpunkt gerückt

Im Gegensatz zum bis dahin praktizierten, streng autoritären Unterricht, der auf einem gewissen Drill basierte, stellt die 1907 begründete Individualpsychologie den Menschen und dessen innere Entwicklung in den Mittelpunkt. An der Oskar Spiel Schule, die es seit genau 30 Jahren gibt, unterrichte man in diesem Sinne alle Kinder individuell und ihren Bedürfnissen entsprechend, sagt Madzar.

"Ich habe an der Schule besonders schön gefunden, dass wir gemeinsam gelesen, gearbeitet, gespielt haben", sagt ein Viertklässler in gebrochenem Deutsch beim morgendlichen Gesprächskreis, der - nach dem Fastenbrechen - wieder vollzählig ist. Zwölf Kinder knien oder sitzen auf orangefarbenen Pölstern im Kreis, vor sich Plastikteller und -becher in Rosa, Grün, Gelb oder Blau. Das Wasser in den Bechern haben sich die meisten Kinder vom Waschbecken in der Kochnische des Klassenzimmers selbst geholt. Einige haben ihre eigene Jausendose mit, außerdem werden Äpfel, geschnittene Butterbrote und Paprika im Kreis herumgereicht. Mit diesen wandert auch eine Papieruhr durch die Runde, auf der anstelle der Ziffern quietschgelbe Smileys mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken von hellauf lachend bis weinend abgebildet sind.

"Ich bin traurig, dass du weggehst", sagt ein weiteres Kind leise und stellt den Zeiger der Papieruhr auf einen nicht ganz so fröhlichen Smiley. "Ich werde dich vermissen."

Nur einige der Kinder dieser Klasse werden die Schule am Ende dieses Schuljahres verlassen, um an eine weiterführende Schule zu wechseln. Es ist die Kleinklasse der Oskar Spiel Schule, in der zwölf Sechs- bis Elfjährige, die besonderen Bedarf im sozialen und emotionalen Bereich haben und damit auch besondere Lernbegleitung brauchen, gemeinsam von zwei Lehrerinnen unterrichtet werden. In den regulären, größeren Klassen mit 25 Schülern, von denen es pro Schulstufe je zwei gibt, ist allerdings ein Fixplatz für jeden von ihnen reserviert. Die Schüler der Kleinklasse können somit stundenweise oder auch für einen längeren Zeitraum in die Großklasse wechseln. Da wie dort bekommen sie Hausübungen auf und schreiben, sobald sie das Alter der vierten Schulstufe erreicht haben, Schularbeiten.

"Viele Kinder sind traumatisiert und haben schon Tote gesehen"

Insgesamt zählt die Schule 185 Kinder, 20 Lehrerinnen und Lehrer sowie einen Psychagogen. Viele Kinder sind traumatisiert, haben Tote gesehen, leben im nahen Asylheim der Caritas oder einer Wohngemeinschaft.

Direktorin Ulrike Madzar arbeitet seit 1993 an der Oskar Spiel Schule als Psychagogin und hat 2009 deren Leitung übernommen. Die Psychagogik ist aus der Individualpsychologie und Psychoanalyse heraus entstanden und vereint diese - vereinfacht ausgedrückt - mit dem Beruf der Pädagogik.

In der Praxis betritt man dabei das weite Feld der pädagogisch-therapeutischen Verfahren bei Verhaltensstörungen, seelischen Konflikten und schwierigen Entwicklungsphasen. Im Grunde gehe es darum, "ganzheitlich zu unterrichten und sich für die innere Welt der Kinder zu interessieren", sagt Madzar. Für deren Gedankenwelt und auch Phantasie - denn Lernen passiere immer über Beziehung.

Die Kinder der Kleinklasse haben mittlerweile gemeinsam mit den zwei Lehrerinnen die Pölster, leeren Teller und Becher weggeräumt. Die Tische und Sessel bleiben aber dennoch in nur einer Hälfte des Klassenzimmers stehen. Denn dort, wo die Schüler soeben noch im Kreis gesessen sind, stellen sie sich nun in zwei Gruppen auf und singen abwechselnd zu englischen Liedern aus dem CD-Player mit. Eine der Lehrerinnen zeigt dabei - dem Liedtext folgend - auf an die Tafel geheftete Kärtchen mit Bildern und dem jeweiligen englischen Begriff. Die Kinder singen laut mit, einige kichern, andere hüpfen im Takt auf und ab, dass der Boden unter den Füßen schwingt.

Sprache sei der Schlüssel zu Bildung, sagt Madzar - und zwar auch die Erstsprache. Daher wird an der Oskar Spiel Schule die Erstsprache in Kleingruppen gefördert. Außerdem gibt es hier ein mehrsprachiges Arbeitszentrum mit Büchern in allen Muttersprachen. Denn: "Eine Zweitsprache wird besser gelernt, wenn man in der Erstsprache sattelfest ist", sagt Madzar. Gemeinsam mit dem Sprachförderzentrum, einer Einrichtung des Wiener Stadtschulrates, habe man ein Konzept erarbeitet und betreibe seit mehr als zehn Jahren die sogenannte mehrsprachige Alphabetisierung: also Unterricht auch mit Erstsprache-Lehrern.

Nach der vierten Klasse wechselt ein Drittel an eine AHS

Dieser neigt sich am frühen Nachmittag an der Oskar Spiel Schule dem Ende zu. Vorher gibt es aber noch eine Übungsstunde - und jene Hälfte der Klasse, in der die Schulbänke stehen, wird mit Leben erfüllt. Die einen schlagen ihre Mathematikbücher auf, die anderen ihre Deutschhefte. Eine der Lehrerinnen geht von Kind zu Kind, hört zu, gibt leise Tipps. Ein Schüler öffnet heimlich seine blaue Jausendose und holt sich den letzten Bissen seiner Semmel heraus.

Ein Großteil der Kinder geht täglich direkt von der Schule in einen Hort der Kinderfreunde, mit denen diese seit den 30 Jahren ihres Bestehens eng zusammenarbeitet. Zum Schulschluss gibt es wie an jeder anderen Schule auch die Zeugnisse. Von denen, die im Herbst nicht wiederkehren, wechselt ein Drittel an eine AHS, sagt Madzar. Das BRGORG 15 am Henriettenplatz und die Wiener Mittelschule Kauergasse seien Partnerschulen.

Dennoch ist es nicht zwingend ein Abschied für immer. "Einige Kinder kommen nach dem Verlassen der Schule zu uns zu Besuch", so Madzar. Einzelne anfangs sogar recht häufig. Und zwar meistens die, die besonders intensiv die Unterstützung und Anteilnahme der Lehrer gebraucht - und bekommen haben.