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"Niemand will einen Richterstaat"

Von Walter Hämmerle

Politik
"Jedes Verfassungsgericht ist zwangsläufig an der Grenze zwischen Politik und Recht angesiedelt."
© WZ/Moritz Ziegler

VfGH-Präsidentin Brigitte Bierlein über die Causa BVT und das Spannungsverhältnis zwischen Rechtsstaat und Demokratie.


Wien. Seit Februar ist Brigitte Bierlein (69) die erste Frau an der Spitze des Verfassungsgerichtshofs (VfGH), auf Vorschlag der Regierung und durch Ernennung des Bundespräsidenten. Sie begann 1975 als Richterin am Bezirksgericht Innere Stadt. Dann wechselte sie zur Staatsanwaltschaft und stieg bis zur Oberstaatsanwältin der Oberstaatsanwaltschaft auf. Seit 2002 ist Bierlein eines der 14 VfGH-Mitglieder, seit 2003 Vizepräsidentin - auch hier war sie die erste Frau, wie zuvor schon als Generalanwältin der Generalprokuratur.

"Wiener Zeitung": Der VfGH hat soeben verfügt, dass es neben den traditionellen Geschlechtern männlich und weiblich ein drittes geben muss. Muss, wer sich dafür entscheidet, dann auch zum Bundesheer oder Zivildienst, zu dem nur Männer verpflichtet sind?Brigitte Bierlein: Wir haben lediglich entschieden, dass das Personenstandsgesetz, in dem nur der Begriff "Geschlecht" festgehalten ist, Spielraum für Interpretationen gibt - und damit die Möglichkeit einer dritten Variante. Es kommt dabei wesentlich auf die biologische Entwicklung an. Wie man bei solchen Fällen dann mit der Wehrpflicht umgeht, ist Sache des Vollzugs. Ich gebe zu, dass das durchaus nicht ganz einfach werden könnte. Eine Eintragung als intersexuelle Person, nur, um der Wehrpflicht zu entgehen, kommt aber nicht in Frage.

Sie berufen sich auf körperliche Kriterien. Aber Rechtsprechung und Gesetze rücken die Interessen des Einzelnen immer stärker in den Fokus. Was, wenn der Wunsch bestimmend wird, das eigene Geschlecht autonom zu bestimmen?

Es ist schwierig zu wissen, wie sich die Rechtsprechung entwickeln wird. Richtig ist jedenfalls, dass Verfassungsgerichte üblicherweise für Offenheit und Liberalität eintreten.

Woher kommt die progressive gesellschaftspolitische Ausrichtung der meisten Höchstgerichte?

Ich denke, das ist im Wesen der Verfassungsgerichtsbarkeit angelegt, weil man hier eher in die Zukunft als in die Vergangenheit gerichtete Fragen behandelt.

Eine Entwicklung wie aktuell in den USA, wo der "Supreme Court" in eine stramm konservative Bastion umgewandelt wird, halten Sie in Österreich für ausgeschlossen?

Jedes Verfassungsgericht ist zwangsläufig an der Grenze zwischen Politik und Recht angesiedelt. Das ist auch in Österreich so, wo die Bundesregierung Präsident, Vizepräsident und sechs weitere Mitglieder vorschlägt und National- sowie Bundesrat je drei Richter nominieren. Trotzdem wird im VfGH volle Unabhängigkeit gelebt. Als wesentlich für diese Unabhängigkeit erachte ich den Umstand, dass wir keine "dissenting opinion" haben, dass also Richter, die gegen die Mehrheit stimmen, ihr Votum nicht öffentlich machen. Es stärkt die Unabhängigkeit, wenn nicht nach draußen dringt, wie welcher Richter gestimmt hat. Ich kann über das Abstimmungsverhalten einzelner Mitglieder daher nicht sprechen. Nur so viel: Dieses Verhalten entspricht nicht immer dem, was man den Richtern von außen zuschreiben würde.

In der Causa der Hausdurchsuchung beim Verfassungsschutz (BVT) gibt es die Befürchtung, dass das Innenministerium das Justizministerium instrumentalisiert haben könnte. Beunruhigt Sie die Causa?

Dazu zwei Bemerkungen: Es ist möglich, dass Fragen im Zusammenhang mit dem U-Ausschuss an den VfGH als Schiedsrichter herangetragen werden. Daher bitte ich um Verständnis, dass ich diese Causa nicht kommentiere. Zweitens kenne ich den Fall nur aus den Medien, und ich habe allein auf dieser Grundlage noch kein klares Bild.

Nun haben vier Chefredakteure einen journalistischen Warnschuss auf das Innenministerium abgegeben, das sich gerüchteweise mit der Möglichkeit von Hausdurchsuchungen von Redaktionen beschäftigen soll. Ist das Redaktionsgeheimnis ein verlässlicher Schutz dagegen?

Ich gehe davon aus, dass das Redaktionsgeheimnis, dessen Schutz ich für rechtsstaatlich unabdingbar halte, lückenlos gewahrt bleibt. Ich habe aber auch keine Wahrnehmungen, die dem widersprechen würden.

Europa erlebt derzeit eine Auseinandersetzung um die Unabhängigkeit der Justiz, nicht nur in Polen und Ungarn, sondern auch in Rumänien, der Slowakei und Malta.

Das ist eine existenzielle Debatte für die EU. Ich bin überzeugt, dass Europa nur dann eine Zukunft hat, wenn wir uns als Wertegemeinschaft begreifen, zu der ganz wesentlich die Unabhängigkeit der Justiz gehört. Aber ich bin Optimistin: Alle EU-Staaten sind demokratisch, auch wenn es in manchen bedenkliche autoritäre Entwicklungen gibt. Das gilt es, genau zu beobachten.

Wie sehen Sie die Situation in Österreich?

Österreich ist ein auf höchstem Niveau ausgestalteter Rechtsstaat mit einem Rechtsschutzsystem, das Seinesgleichen sucht. Die Unabhängigkeit der Justiz wird von niemandem in Frage gestellt.

Festzustellen ist aber auch in Österreich der Trend, die Justiz in die politische Auseinandersetzung hineinzuziehen. Bei jedem heiklen Thema brodeln die Spekulationen über parteipolitische Netzwerke in der Justiz. Und von dieser Versuchung ist keine Partei frei.

Was immer die Justiz macht, es wird über ihr Motiv spekuliert. Das wird man auch beim jetzt laufenden umfangreichen Wirtschaftsprozess (Anm. zur Causa Buwog) beobachten können, egal, wie das Urteil ausfällt. Ich selbst war lange Staatsanwältin und kann Ihnen versichern, dass die Justiz ausschließlich nach sachlichen und nicht nach politischen Kriterien handelt.

Vielleicht sollten Sie ein Gespräch mit den Justizsprechern aller Parteien führen, die Justiz aus der Parteipolitik herauszuhalten?

Ja, vielleicht ist das keine schlechte Idee, obgleich ich versuche, mich so weit wie möglich aus der Politik herauszuhalten.

Ideengeschichtlich existiert zwischen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ein zwingendes Spannungsverhältnis. Der Rechtsstaat setzt den Rechten der Mehrheit immer engere Grenzen. Provokant gefragt: Wenn stimmt, dass - wie Sie sagen - Verfassungsgerichte meist offen und liberal agieren, dann brauchen wir als liberale Gesellschaft die Demokratie nicht mehr unbedingt. Die Richter stellen ja die Richtung sicher.Niemand will einen Richterstaat. Und der Gestaltungsspielraum des demokratischen Gesetzgebers ist für den VfGH ein hohes Gut, dem wir auch großen Raum einräumen. Die Gerichtsbarkeit ist zudem nur ein Teil der Gewaltenteilung, dazu gehört neben der Exekutive eben auch das Parlament als Stimme der Bürger.

In der aufgeheizten Stimmung kann man aber den Eindruck gewinnen, manchen wäre es recht, wenn in einigen Ländern keine Wahlen mehr wären, um die liberale Demokratie nicht zu gefährden.

Solange es Nationalstaaten und ihre nationale Rechtsordnung gibt, sind Spannungen mit europäischen Rechtsgrundlagen nie ausgeschlossen. Was sicher stimmt, ist, dass in bestimmten gesellschaftspolitisch sensiblen Fragen - etwa bei der Stiefkindadoption - die Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte den nationalen Rechtsordnungen voraus ist. Das kann ein Versäumnis der nationalen Gesetzgebung sein.

Was würden Sie gerne an den Spielregeln beim VfGH ändern, wenn Sie könnten?

Ich sehe grundsätzlich kein Manko. Ich finde es nur bis heute gewöhnungsbedürftig, dass ich als Vorsitzende kein Stimmrecht habe. Das ist ein Spezifikum des österreichischen Verfassungsgerichtshofs.