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"Kopf hoch, und nicht die Hände"

Von Werner Reisinger

Politik
Thomas Krüger, geboren 1959 in der DDR, leitet seit 2000 die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb).
© Martin Scherag

Thomas Krüger, Präsident der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung, im Interview über Objektivität in der Schule.


Wiener Zeitung:Herr Krüger, Sie leiten seit über 18 Jahren die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Wieso tut sich Österreich im Vergleich zu Deutschland mit der Etablierung des Fachs politische Bildung so schwer?Thomas Krüger: Das hat wohl mit der Entwicklung in der direkten Nachkriegszeit zu tun. Im Rahmen des Potsdamer Abkommens kam man überein, mit breiten Bildungsangeboten der deutschen Gesellschaft demokratische Grundlagen nahezubringen. Das geschah in verschiedenster Form, über Erwachsenenbildungsanstalten, teilweise auch über parteinahe Stiftungen. Diese Kultur, den Eigenwert von Demokratie breiten Schichten zu vermitteln, gab es in Österreich in dieser Form nicht.

Auf welche Grundsätze hat man sich bei der politischen Bildung verständigt?

1976 kam es zum sogenannten Beutelsbacher Konsens, bei dem man sich damals im Wesentlichen auf drei Prinzipien verständigt hatte. Das Kontroversitätsgebot besagt, dass alles, was in Wissenschaft und Politik kontrovers diskutiert wird, auch in der politischen Bildung kontrovers unterrichtet werden muss. Das Überwältigungsgebot oder Indoktrinationsverbot besagt, dass jeder Lehrer rational argumentieren muss und den Schülern nicht seine Sicht der Dinge aufzwingen darf. Das bedeutet aber auch, Meinungsunterschiede und Positionen sichtbar zu machen. Nur so ist Pluralismus möglich. Das Prinzip der Schülerorientierung verlangt, dass das, was erlernt wird, ausreichen muss, um eigene politische Positionen zu entwickeln und politische Interessen zu formulieren.

Was würden Sie Lehrern sagen, die der Ansicht sind, dass man das Fach nicht objektiv unterrichten kann, vor allem, wenn Parteien wie die AfD oder die FPÖ behandelt werden?

Es ist unkorrekt, Objektivitätsgebot zu fordern. Der Beutelsbacher Konsens besagt ja auch, dass kontrovers unterrichtet werden muss. Es gibt keine "rote Linien" bei gewissen Parteien, sondern bei Themen und Argumentationen, die in Konflikt mit der Verfassung stehen. Grundlage ist immer die Verfassung, und die gilt es mit Leben zu füllen. Es gibt aber kein Gebot, Einstellungen, die von der Verfassung nicht geduldet werden, in der politischen Bildung abbilden zu müssen. In der politischen Bildung geht es darum, demokratisches Bewusstsein zu schaffen, und nicht um Indoktrination. Und Demokratie ist eben kein Ponyhof. Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen uns auch, dass es bei der politischen Bildung für die Schüler hilfreich ist, zu wissen, wie der Lehrer politisch tickt. Deshalb: Keine Angst vor Kontroversen. Kopf hoch, und nicht die Hände!

Spielt die Frage von Objektivität in Deutschland keine Rolle?

Es geht eher um die Frage, wie wir den Beutelsbacher Konsens weiterentwickeln können. Auch und speziell, was das Kontroversitätsgebot angeht. Wir wissen, dass Emotionen eine große Rolle in Lernprozessen spielen, dass wir auch immer stärker audiovisuell lernen. Diese Inhalte prägen natürlich die gesellschaftlichen Positionen mit. Wollen wir den Schülern nur die Fähigkeit zur Analyse mitgeben? Wir denken, junge Leute sollen ihr politisches Wissen praktisch nutzen können.

Es ist wichtig, das Fach stets an die gesellschaftlichen und politischen Dynamiken anzupassen. Die Verfassungswirklichkeit, die politische Kultur, ändert sich mit den gesellschaftlichen Entwicklungen. Es ist zum Beispiel heute kaum vorstellbar, dass Homosexualität noch bis 1994 kriminalisiert wurde. Das zu reflektieren, ist auch unsere Aufgabe.

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