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Die Schlacht um Istanbul 2.0

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Oppositionskandidat Imamoglu wird auch bei der von der AKP erzwungenen Wiederholung der Bürgermeisterwahl ein klarer Sieg vorausgesagt. Offen ist, ob Erdogan diesmal die Schlappe in seiner einstigen Hochburg akzeptieren würde.


Ankara. Wenn sich die Umfragen bestätigen, wird die von der politischen Führung erzwungene Wiederholung der Bürgermeisterwahl in der türkischen 16-Millionen-Metropole Istanbul an diesem Sonntag ein Debakel für die islamische Regierungspartei AKP des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Selbst regierungsfreundliche Meinungsforscher prognostizieren dem Oppositionskandidaten Ekrem Imamoglu, dem Sieger der Istanbul-Wahl vom März, einen Vorsprung auf seinen AKP-Herausforderer und ehemaligen Ministerpräsidenten Binali Yildirim; oppositionsnahe Institute sehen ihn bei 49 Prozent und damit mit bis zu acht Prozentpunkten vorn.

Der überraschende Akt Yildirims, sich mit Genehmigung Erdogans auf ein Fernsehduell mit Imamoglu einzulassen, führte der Nation eindrucksvoll die Gegensätze vor: Hier der jugendlich wirkende, agile 48-jährige Vertreter einer neuen, weltoffenen Generation, dort der bräsig-großväterliche 63-jährige Yildirim mit seinen Losungen von gestern. Seit der Sendung reiten die Erdogan-nahen Medien wütende Attacken auf den "Lügner" Imamoglu und räumen damit indirekt dessen Sieg im direkten Kandidatenvergleich ein.

25 Jahre in Islamistenhand

Das Wahldrama von Istanbul hat viele Facetten. Es war ein Schock für Erdogans erfolgsverwöhnte Islamisten, als sie Ende März das Rathaus der symbolisch und wirtschaftlich wichtigsten Stadt der Türkei erstmals seit 1994 verloren - zumal der Präsident die Kommunalwahl zur Frage des nationalen Überlebens und zu einer Art Referendum über sich selbst erhoben hatte.

Dass dieser Triumph Ekrem Imamoglu, einem Repräsentanten der sozialdemokratischen 25-Prozent-Partei CHP und praktisch unbekannten Bezirksbürgermeister, gelang, lag einerseits an einem strategischen Fehler Erdogans. Denn auf dessen Wahlbündnis mit der rechtsextremen MHP reagierte die Opposition ebenfalls mit einem Zusammenschluss, der außerdem von der prokurdischen HDP mit ihrem 12-Prozent-Wählerpotenzial unterstützt wurde. Noch nie in der Geschichte der Türkei gab es eine solch breite Wahlallianz; sie tritt am Sonntag erneut an.

Der zweite entscheidende Faktor ist die anhaltende wirtschaftliche Rezession. Die Inflationsrate liegt bei 20 Prozent, die Arbeitslosigkeit ist auf rund 15 Prozent gestiegen. Imamoglus Erfolg hat wesentlich damit zu tun, dass er Entlastung für die unteren Einkommensgruppen verspricht. Ebenso wichtig ist, dass er die Verschwendungssucht, Vetternwirtschaft und Korruption der herrschenden AKP-Elite zu einem zentralen Thema machte. Zudem ist er ein gläubiger Muslim, dessen Versammlungen auch zahlreiche Frauen mit Kopftuch besuchen. Man kann ihn nicht als säkularen Religionsfeind brandmarken und hat ihm trotz intensiver Bemühungen auch keinen Amtsmissbrauch nachweisen können.

Als Imamoglu am 31. März nach einer dramatischen Wahlnacht mit äußerst knapper Mehrheit zum neuen Oberbürgermeister erklärt worden war, schien sich Erdogan zunächst damit abzufinden. Doch mächtige, um ihre Privilegien fürchtende AKP-Zirkel reklamierten "Stimmenklau" und "Betrug" bei der Wahl. Tatsächlich ist Istanbul die wichtigste Geldmaschine der AKP, die ihr ausgedehntes Patronagesystem antreibt.

Wahlmanipulation befürchtet

Nach offizieller Anfechtung durch die AKP und auf massiven Druck der politischen Führung annullierte der Hohe Wahlrat die Bürgermeisterwahl, begründete dies aber mit widersprüchlichen Argumenten. Die umstrittene Entscheidung wurde auch international scharf kritisiert, denn sie erweckte den Eindruck, dass ein geordneter Machtwechsel durch freie Wahlen unter Erdogan nicht mehr möglich sei.

Doch die Neuwahlentscheidung machte Imamoglu erst recht zum moralischen Sieger, der seine Popularität bis heute stetig steigern konnte. Diffamierungen der AKP-nahen Medien prallten an ihm ab. Die Opposition hat inzwischen begonnen, tausende Anhänger als Wahlbeobachter zu organisieren und ein eigenes Stimmzettelzählsystem zu installieren, um den befürchteten Manipulationen so weit wie möglich vorzubeugen.

Erdogan schien seinen Fehler schnell zu begreifen und zog sich zunächst völlig aus dem Wahlkampf zurück. Es gehe "ja nur um eine Kommunalwahl", erklärte er nun. Unterdessen übernahm der neuerlich ins Rennen geschickte AKP-Kandidat Yildirim die versöhnende Sprache und viele Kampagnenthemen seines Kontrahenten, versprach hunderttausende neue Arbeitsplätze und mehr Unterstützung für Familien, Studenten und Bedürftige. Am Sonntag kommt es nun stark auf die Wahlbeteiligung an. Der Urnengang fällt mitten in die Ferienzeit. Die Oppositionsparteien organisieren bereits kostenlose Busfahrten aus entlegenen Provinzen.

Erdogan droht mit der Justiz

Nachdem die TV-Debatte am vergangenen Sonntag aber nicht den erhofften Meinungsumschwung brachte, kehrte Erdogan auf den Kriegspfad zurück. In einer Rede verglich er Imamoglu plötzlich mit dem ägyptischen Putsch-Präsidenten Abdel Fattah Al-Sissi und erklärte: "Wir werden unser Land und Istanbul nicht dieser faschistischen Denkweise überlassen." Imamoglu müsse sich beim Gouverneur der Schwarzmeerstadt Ordu dafür entschuldigen, dass er diesen einen "Hund" genannt habe, sonst werde die Justiz verhindern, dass er jemals Bürgermeister Istanbuls werde.

Imamoglu bestreitet die Beleidigung vehement. Doch Erdogans kaum verhüllte Drohung zeigt, dass er intensiv über den Tag nach dem Urnengang nachdenkt. Die große Frage ist deshalb: Wird der Autokrat das Ergebnis der Wiederholungswahl akzeptieren, falls es ihm wieder nicht passt?