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Die Liebe in Zeiten von Corona

Von Thomas Seifert

Politik

Das Virus Sars-CoV-2 ist Auslöser einer Zeitenwende. Was vor uns liegt, ist kein Sprint, sondern ein Marathon.


Der in Wien lebende Zukunftsforscher John Casti bezeichnet sich selbst gerne scherzhaft als "Optimist der Apokalypse". Vor Jahren sprach er in einem Interview mit der "Wiener Zeitung" über sogenannte "X-Events", also Ereignisse von geringer Wahrscheinlichkeit, die aber ungeahnte Folgen haben.  Eine Pandemie - so wie sie die Welt derzeit erlebt - ist ein derartiger "X-Event". Der Mathematiker und Zukunftsforscher erklärte, wie man derartige Schocks übersteht: Einerseits, so meinte Casti, gehe es um die Erhöhung der Widerstandskraft von Gesellschaften und Organisationen, andererseits gehe es darum, sich für eine neue Umwelt, die ein derartiger Schock erzeugt, zu wappnen.

Denn - daran besteht kein Zweifel - das Coronavirus Sars-CoV-2 ist ein Stresstest: für jeden Einzelnen, für Familien, für Beziehungen und Freundschaften, für Gemeinschaften, Gemeinden, den Staat, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und schließlich die Weltgemeinschaft und die menschliche Zivilisation.

Wir alle sind jetzt staunende Zeitzeugen einer Zeitenwende.

Beginnen wir bei den einzelnen Individuen: In den stabilen Friedensgesellschaften Europas sind in den vergangenen Jahrzehnten die Erfahrungen von elementaren Krisen in Vergessenheit geraten. Nun müssen Menschen, deren Katastrophen-Erfahrung (erfreulicherweise) auf Angstlust-Grusel-Kinoerlebnisse und dystopische Romane beschränkt ist, in den Krisenmodus umschalten. Bürgerinnen und Bürger müssen lernen, unter Stress zielgerichtet, rasch und rational zu handeln. Sie müssen lernen, ihren Mitmenschen eine Stütze zu sein, und werden die Erfahrung machen, dass es Menschen geben wird, die einen auffangen und wieder aufrichten, wenn man unter der Last der Ereignisse zusammenbricht.

Die Vergangenheit bietet wenig Anschauungsmaterial für die Gegenwart - und so ist die Situation für alt und jung gleichermaßen völlig neu. Denn 2020 - dieses Jahr ist radikal anders als 2019.

Zeit für Reflexion

In den nächsten Wochen wird die Zeit für viele Menschen stillstehen. Es wird Raum geben für Selbstreflexion und es wird Zeit geben für eine Neuorientierung der eigenen Existenz.

Was ist wirklich wichtig? Worauf kommt es tatsächlich an im Leben? Was bedeutet es, ein wertvoller Mensch zu sein?

Beziehungen, Familien und Freundschaften werden auf die Probe gestellt: Bei den einen wird die Corona-Krise einen bereits vorhandenen Haar-Riss zu einer Knackstelle vertiefen, an der es schließlich zum Bruch kommt. Bei anderen wird sich Zusammenhalt vertiefen und Vertrauen wachsen.

Menschen werden die Augen geöffnet für jene Mitmenschen, die sie in der Zeit des Social Distancing wirklich vermissen. Und viele werden angesichts des vom Virus erzwungenen Verzichts merken, welchen enormen Stellenwert soziale Aktivitäten und Besuche von Kulturveranstaltungen im Leben haben.

Für den Staat wird Covid-19, die Krankheit, die durch das Corona-Virus ausgelöst wird, zu einer harten Bewährungsprobe. Kann der Sozialstaat sein Wohlfahrtsversprechen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern halten?

Eines lässt sich heute freilich prognostizieren: Kollektivistische Systeme, wie etwa die asiatischen Kulturen oder die mitteleuropäischen Konsensdemokratien, werden den politischen Schock, den Covid-19 auslöst, besser bewältigen als individualistische Gesellschaften, deren Staatsrumpf nicht mehr viel mehr ausmacht als ein Nachtwächterstaat. So sind die USA mit ihrem erratischen Präsidenten Donald Trump denkbar schlecht vorbereitet, während man in vielen Ländern Europas das Problem sehr ernst genommen hat. Wenn das Schlimmste überstanden ist, wird es aber viele Fragen geben: Hat man zu spät reagiert? Zu spät getestet? Für den Ernstfall unzureichend vorbereitet? Oder hat man vielleicht überzogen, waren die Maßnahmen - vor allem für die Wirtschaft - zu hart?

Freilich: Man kann davon ausgehen, dass die Börsen-Kurscharts die Menschen in den kommenden Wochen die Öffentlichkeit weniger interessieren werden als die Graphen der Infizierten und Opfer.

Für die Wirtschaft ist der Schock enorm: Es steht nicht nur angesichts der Knappheit von Medikamenten, Schutzkleidung und Schutzmasken das Modell der hyperglobalisierten Wirtschaft auf dem Prüfstand.

Es wird lange dauern, bis sich im Wirtschaftsgeschehen eine neue Balance einstellt.

Die Zeit des Einfrierens der Wirtschaft können Unternehmen (wie auch die Öffentliche Hand) nutzen: zu einer Digitalisierungsoffensive, zu einem neuen Verständnis von Teamwork und Home-Office und modernem Zusammenarbeiten.

Und die Tatsache, dass die Superreichen der globalen Plutokratie schon seit Wochen ihre Flucht in Privatjets zu ihren bestens ausgestatteten Sicherheitsquartieren in Neuseeland und anderswo vorbereiten lassen, wirft ein bezeichnendes Schlaglicht auf die Realitäten eines seit einiger Zeit außer Kontrolle geratenen Kapitalismus.

Populismus wird unpopulär

Leitartikler und Politiker, die stets die hohen Kosten des Sozialstaats angeprangert und die Solidarsysteme grundsätzlich in Frage gestellt haben, sind in diesen Tagen auf einem ähnlichen Tiefpunkt ihrer Popularität wie populistische Politiker, deren Geringschätzung von Experten und dummschwätzende Propaganda die Fortentwicklung von Staaten jahrelang behindert hat.

Der streitlustige, provokante, aber hochinteressante libanesische Denker und Essayist Nassim Taleb hat im Jahr 2012 ein Buch mit dem Titel "Antifragilität" verfasst. "Antifragilität ist mehr als Resilienz oder Robustheit. Das Resiliente, das Widerstandsfähige widersteht Schocks und bleibt sich gleich; das Antifragile wird besser." Diese Chance bietet sich nun: Der Einzelne, aber auch die Gesellschaft kann gestärkt aus dieser Krise hervorgehen.

Aber niemand sollte sich etwas vormachen: Was nun vor den Menschen liegt, ist kein kurzer schneller Sprint, sondern ein langer, mühsamer Marathon.