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Der Libanon als Spielball der Interessen

Von Alexander Dworzak und Michael Schmölzer

Politik

Innenpolitische Bruchlinien und ausländische Mächte lassen den Mittelmeerstaat nicht zur Ruhe kommen.


Der Libanon ist ein Land mit beschränkten Zukunftshoffnungen. Zwischen Israel und Syrien gelegen, gleicht er einem Pulverfass, mit der Explosion im Hafen von Beirut ist für die leidgeprüfte Bevölkerung die Schwelle des Erträglichen überschritten. 300.000 Menschen sind seit Dienstagabend obdachlos, die Zahl der Toten ist auf mehr als 150 gestiegen. Tausende Menschen protestieren gegen Korruption und ein verfilztes System mit unfähigen, selbstherrlichen Politikern.

Die Staatsschuldenquote ist weltweit eine der höchsten, eine beispiellose Wirtschaftskrise hat den Mittelstand um seine Ersparnisse gebracht. Die Jugend sieht keine Zukunft mehr und will auswandern - in die USA, nach Kanada oder Frankreich. Eine Reform des erstarrten politischen Systems kann nur "von unten" erfolgen, da sind sich die Experten einig. Doch sind die zivilgesellschaftlichen Strukturen geschwächt, das Erneuerungspotenzial ist begrenzt.

Eine Wurzel des Problems liegt in den Folgen des Bürgerkriegs, der den Libanon zwischen 1975 und 1990 heimgesucht hat. Die jeweiligen Frontverläufe sind bis heute im Stadtgebiet von Beirut gut sichtbar. In die Kämpfe verwickelt waren in wechselnden Koalitionen maronitische (christliche) Phalangisten, Sunniten, schiitische Amal-Milizen, Drusen und Palästinenser. 90.000 Menschen fanden bei den Kämpfen den Tod, ältere Libanesen erinnern sich mit Schaudern an diese Zeit.

Als Folge des Endlos-Konflikts wurde ein komplexes Proporzsystem perfektioniert, dem alles untergeordnet wird und das den Frieden sichern soll. So muss der Präsident immer ein Christ sein, während es sich beim Regierungschef stets um einen Sunniten, beim Parlamentspräsidenten um einen Schiiten handelt. Die schiitische Hisbollah, in der die Amal-Bewegung aufgegangen ist, hat im Süden des Landes einen Staat im Staat errichtet, auf den die Zentralregierung keinen Einfluss hat.

Fataler Stellvertreterkrieg

Nebeneffekt dieses Systems ist, dass Entscheidungen auf die lange Bank geschoben oder überhaupt nicht getroffen werden. So ist der Libanon bekannt dafür, dass es nach Wahlen über Monate keine funktionsfähige Regierung gibt, weil um Zuständigkeiten und Kompetenzen gefeilscht wird. Das Bestreben, jeden an jeder Entscheidung im gleichen Ausmaß teilhaben zu lassen, reicht bis ins Jahr 1943 zurück, als der Libanon von Frankreich unabhängig wurde. Das System hat dem Land in den letzen Jahren zwar einen blutigen Bürgerkrieg wie in Syrien erspart, die Nebenwirkungen sind aber fatal.

Keinesfalls dürfe die syrische Katastrophe in den Libanon getragen werden, schworen die Parteien über alle ideologischen und konfessionellen Grenzen hinweg 2012. Auch wenn dieses Ziel erreicht wurde, ist Syrien und dem Libanon gemein, dass vielfältige, oft gegensätzliche ausländische Interessen Konfliktlösungen ungemein erschweren.

Im Libanon mutierte der Bürgerkrieg mit dem Eintritt der Nachbarn Israel und Syrien sowie des Iran zum Stellvertreterkrieg zwischen den regionalen Mächten. Nach Ende des Krieges sollten die syrischen Truppen gemäß eines Abkommens aus dem Jahr 1989 bis 1991 abziehen. Doch der damalige syrische Machthaber Hafiz al-Assad - Vater des heutigen Präsidenten Bashar al-Assad - beließ die Truppen im Nachbarstaat. Und zwar auch nach dem Jahr 2000, als Israel seine Soldaten aus dem Südlibanon abzog. Das tödliche Attentat auf den libanesischen Premier Rafik Hariri 2005 stieß die sogenannte Zedern-Revolution an, erst danach endete die syrische Besatzung.

Umgebracht wurde der Sunnit Hariri vermutlich von Anhängern der schiitischen Hisbollah. Deren bewaffneter Arm wird von der EU als Terrororganisation eingestuft, sie ist aber noch viel mehr: soziale Bewegung, karitative Organisation und Partei. Ihre beiden Minister in der 20-köpfigen libanesischen Regierung spiegeln dabei nicht im Geringsten die realen Kräfteverhältnisse wider. Denn hinter der Hisbollah steht der Iran.

Das Regime in Teheran und die Hisbollah kämpfen in Syrien Seite an Seite für den Machterhalt ihres Verbündeten Bashar al-Assad - aus jetziger Sicht mit Erfolg. Daheim im Libanon akzeptierte die Armee die Hisbollah an ihrer Seite, um Kämpfer des "Islamischen Staats" zu vertreiben. Nicht nur dieses Beispiel zeigt, wie schwach die Staatsgewalt ausgeprägt ist. Laut dem auf Sicherheitspolitik spezialisierten Online-Magazin "Sipol" handelte die Hisbollah auch die Rückkehr von syrischen Flüchtlingen und Milizen aus dem Libanon aus.

Saudis und Iran geschwächt

In Saudi-Arabien stieß das auf großes Missfallen und soll sogar mit ein Grund gewesen sein, dass der damalige libanesische Premier Saad Hariri - Sohn des ermordeten Rafik Hariri - 2017 zwischenzeitlich zurücktrat. Hariri verkündete seine Demission in Saudi-Arabien, wohl auf Druck von dessen Kronprinzen Mohammed bin Salman. Denn das wahabitisch-sunnitische Königreich sieht sich als großer Gegenspieler des schiitischen Iran.

Sowohl Saudi-Arabien als auch der Iran sind derzeit geschwächt: Bei den Saudis kommen die hochtrabenden Pläne zur Diversifizierung der Wirtschaft nicht vom Fleck, auch aufgrund des gefallenen Ölpreises. Dem Iran macht die Sanktionspolitik von US-Präsident Donald Trump zu schaffen, und die Zahl der Corona-Opfer dürfte deutlich höher liegen als vom Regime behauptet.

Am wenigsten hat der Libanon von einem Land zu befürchten, mit dem es sich offiziell noch im Krieg befindet: Israel. Und während die Hisbollah weiterhin Israel das Existenzrecht abspricht, bringt die Tragik von Beirut zumindest menschliche Gesten hervor: Allen historischen Wunden zum Trotz ließ Tel Avivs Bürgermeister die libanesische Flagge auf sein Rathaus projizieren.