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Mossul: Eine Oase zwischen Fiktion und Realität

Von Von Birgit Svensson

Politik
Die Zerstörungen des vergangenen Krieges sind in der Oase von Mossul nach wie vor zu sehen.
© Svensson

Ob die Wahlen im Irak die gewünschte Veränderung bringen, ist vollkommen offen.


Den ganzen Tag über fahren Lautsprecherwagen durch Mossul und andere Städte Iraks, um die Menschen zum Urnengang aufzufordern. Untermalt wird die Aufforderung durch die irakische Nationalhymne. Nur für den Muezzin, der mittags zum Gebet ruft, verstummt die blecherne Männerstimme für einen Moment. Kurz vor sieben Uhr, als die Wahllokale öffnen, ertönt die patriotische Musik und hält unvermindert bis 18 Uhr an, bis die Lokale wieder schließen. Bis dahin können über 20 Millionen Iraker ihre Stimme abgegeben haben. Wie viele tatsächlich zur Urne gehen, wird entscheidend für die Zukunft des Landes sein.

Denn so wie in Deutschland vor zwei Wochen, ist diese Parlamentswahl im Irak eine Richtungswahl. Veränderung oder Stillstand ist auch im Zweistromland die Frage. Doch geht es hier nicht primär um Klimaschutz, Digitalisierung und die Pandemiebekämpfung, sondern um Grundsätzliches. Das politische System Iraks steht zur Abstimmung. Wenn es tatsächlich gelingt, den Irak mit diesen Wahlen ein Stück weiter in Richtung Demokratie zu bringen, würde das Land zum Leuchtturm in einem Meer von Autokraten, Diktatoren und Ajatollahs. Entsprechend stark ist der Druck von außen auf diese Wahl. Interimspremierminister Mustafa al-Kadhimi lässt den Flughafen für drei Tage schließen und seine F-16 Kampfjets über den Städten Bagdad, Mossul und Basra kreisen, um eine reibungslose Wahl zu gewährleisten, wie er sagt.

Das "Beitna", was übersetzt unser Haus bedeutet, ist bereits ein Leuchtturm. Im Trümmerfeld der Altstadt von Mossul am rechten Tigrisufer, ist das Café und Kulturhaus zum Treffpunkt einer alternativen Szene geworden, die sich gerade in Iraks ehemals zweitgrößter Stadt bildet. Sakar hat nach der Vertreibung der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS), die Mossul mehr als drei Jahre lang fest im Griff hatte, das Haus zwischen Ruinen entdeckt. "Es war nicht so sehr zerstört, wie die anderen ringsherum", sagt der Mittzwanziger. Liebevoll gingen er und seine Freunde an die Arbeit, renovierten, malerten, ermutigten Künstler ihre Spuren zu hinterlassen. Ein kleines Museum mit alten Gegenständen aus der Stadt wurde in einem Zimmer eingerichtet, dessen Decke durch einen Granateneinschlag schwer beschädigt wurde. Sakar wollte nicht alles übertünchen. Man sollte schon sehen, was hier geschehen ist, meint er. Sakar hat eine Oase geschaffen zwischen Fiktion und Realität.

Rings um das Beitna wird nun langsam, ganz langsam auch der Rest der Altstadt zu neuem Leben erweckt. Die Trümmer werden beseitigt, einige Häuser renoviert, andere gänzlich abgetragen, weil sie nicht mehr zu retten sind. Straßencafés entstehen, Garküchen, Geschäfte. Das beste Falafelrestaurant Mossuls ist im zerstörten Westen der Stadt wieder auferstanden, loben die Einheimischen. Für sie ein Zeichen des Aufbruchs. Lichterketten am zerfallenen rechten Tigrisufer und bunte Lampen im Springbrunnen am Abend sollen über die Trostlosigkeit des Tages hinwegtäuschen. Denn das einzige, was in West-Mossul derzeit von Grund auf renoviert wird, sind Moscheen mit Geld aus den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi Arabien. Ansonsten ist der Stadtteil noch immer ein einziges Trümmerfeld.

Wähler noch unschlüssig

Gegen 21 Uhr abends füllt sich das Beitna mit vornehmlich männlichen Gästen. Sie sitzen, spielen Domino, rauchen Wasserpfeife, trinken Tee, süßen türkischen Mokka oder heißen "Numi Basra" – ein Getränk aus getrockneten, schwarzen Zitronen, die viel Vitamin C enthalten. Doch an diesem Abend wird intensiv diskutiert. Am nächsten Tag sind Wahlen und "intihabat" ist in aller Munde. Eine kleine, nicht repräsentative Umfrage unter den Gästen ergibt, dass die Mehrheit ihre Stimme abgeben wird. Allerdings wissen einige noch nicht, wen sie wählen sollen. Die Frage, ob sie für einen unabhängigen Kandidaten oder eine Kandidatin stimmen werden oder für eine Partei, wird unterschiedlich beantwortet.

Neben großer Zustimmung für das neue Wahlgesetz, das erstmals unabhängige Kandidaten erlaubt, überwiegt dann doch die Skepsis, dass diese sich letztendlich von den Parteien kaufen lassen und, einmal im Parlament, ihre Unabhängigkeit aufgeben. "Viele sind enttäuscht von der Politik und halten sich fern", erklärt einer die vielleicht niedrige Wahlbeteiligung. Doch es könnte eine Überraschung geben, meint ein anderer. Wenn die schiitischen Parteien im Süden erheblich an Stimmen verlieren und die Leute die unabhängigen Kandidaten wählen, dann seien sie im Norden die Königsmacher. Dann hätte Mossul ein gewaltiges Wort in Bagdad mitzureden. Dieser Optimismus ist ansteckend und überrascht. Denn wie keine andere Stadt im Irak, war Mossul in den vergangenen Jahren Schauplatz von Terror, religiösem Extremismus, Zerstörung und Verwüstung: zuerst Al Kaida, dann der IS.

Heute ist die Stadt am Tigris zweigeteilt. Das linke Ufer, scherzhaft an Paris angelehnt "Rive gauche" genannt, wo die Reichen und Schönen wohnen, hat tatsächlich eine vielversprechende Entwicklung in den letzten vier Jahren nach dem Sieg über den IS erlebt. Da die Häuser nicht vollständig zerstört waren, wie auf der andern Flussseite, waren sie schnell wieder hergestellt, neue sind entstanden. Rund um die Universität gibt es neue Restaurants, Cafés, schicke Geschäfte. Shopping Malls entstehen, Hotels ebenfalls. Die Straßen werden frisch geteert und Strom gibt es fast 24 Stunden lang, was im Rest Iraks selten ist. In Bagdad beispielsweise ist alle zwei Stunden Stromausfall und der Generator muss eingeschaltet werden. Auf der anderen Tigrisseite, das Kontrastprogramm. Acht Monate lang tobten dort erbitterte Kämpfe. Es wurde regelrecht Häuserkampf betrieben, der IS verschanzte sich. Als die Dschihadisten sich im Juli 2017 geschlagen geben mussten, hinterließen sie verbrannte Erde und bei den wenigen noch verbliebenen Mosulanern das Gefühl des "Nie wieder".

"Am Anfang haben sie alles getan, damit wir ihnen vertrauen konnten", erzählt Jasmin Alrawy über ihre Zeit unter dem IS. Doch dann zeigten sie ihr wahres Gesicht, kürzten die Gehälter, verbannten die Frauen ins Haus, befahlen Vollverschleierung, verboten Alkohol und Zigaretten. "Als wir fliehen wollten, war es zu spät." Sie ließen keinen mehr aus Mossul raus und keinen mehr rein, riegelten die Stadt komplett ab. Als die Schlacht um Mossul begann, sei es unerträglich geworden, berichtet die 42-Jährige. "Der IS war innerhalb der Stadt, irakische Armee und PMF (Volksmobilisierungsfront) außerhalb. Wir waren doppelt belagert."

Alrawy kandidiert jetzt für das Parlament in Bagdad. Sie möchte denjenigen, die in derselben Situation waren wie sie eine Stimme geben, möchte sich insbesondere um die Witwen kümmern, deren Männer dem blutigen Kampf um Mossul zum Opfer gefallen sind. Den Frauen, deren Männer mit dem IS sympathisierten oder als IS-Kämpfer starben, möchte sie eine Chance auf Reintegration geben. "Natürlich müssen wir genau hinschauen, inwieweit deren Ideologie noch in den Köpfen verankert ist." Sie hat bereits ein Programm entwickelt, um die Gehirnwäsche der Dschihadisten zu konfrontieren. Sollte sie den Einzug ins Parlament schaffen, werde sie zuerst einmal beten und dann versuchen, ein Frauenministerium zu organisieren.

Elektronisches Zählsystem als Hürde

Als die Wahllokale schließen, herrscht großes Rätselraten. Ein neues elektronisches Zählsystem sollte Unwägbarkeiten und Fälschungen verhindern. In manchen Wahllokalen konnten die Helfer allerdings nicht damit umgehen, weil sie unzureichend geschult waren. Dort wird nun von Hand nachgezählt. Die alles entscheidende Frage ist nun, wie die alten Parteien abgeschnitten haben, ob sie ihre Macht festigen und weiterregieren können. Im dreimonatigen Wahlkampf haben sie alles dafür getan, ihre wankenden Positionen zu verteidigen, haben auch mit unlauteren Methoden versucht, die Wähler für sich zu gewinnen und die Stimmabgabe in ihre Richtung zu lenken.

Boykottbekundungen waren zahlreich. Vor allem Mitglieder der Protestbewegung wollten dem Urnengang fernbleiben, obwohl gerade sie es waren, die diese vorgezogenen Neuwahlen mit ihren Massenprotesten zwei Jahre lang gefordert hatten. Sie haben den Rücktritt der damaligen Regierung erreicht und ein neues Wahlgesetz, das jetzt so viel Hoffnung auf eine Veränderung der Parteienlandschaft verheißt. Doch ihre Hauptforderung, die Schuldigen für den Tod von über 600 Demonstranten zur Rechenschaft zu ziehen, blieb unerfüllt. Ihre Finger zeigen auf die von Iran unterstützten Schiitenmilizen. Doch gerade die traten auch zur Wahl an. Die jungen Iraker in Mossul sind trotzdem überzeugt, dass ihre Generation etwas bewegen kann und die Zukunft ihnen gehört, wenn es auch manchmal zu langsam geht.