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In Afghanistan droht der Kollaps

Von WZ-Korrespondent Emran Feroz

Politik

Millionen Menschen sind von Hungersnot und Armut betroffen. Westliche Staaten wollen helfen, dabei aber nicht mit der radikalislamischen Taliban-Regierung zusammenarbeiten. Das erscheint in der Praxis schwierig.


Wir stehen nicht vor einer Katastrophe, sondern befinden uns bereits in einer", sagt Ahmad Zia, ein Arzt aus der nordafghanischen Provinz Mazar-e Sharif. In seiner Praxis tummeln sich in diesen Tagen viele Patienten, denen das Geld fehlt. "Viele leiden an den Folgen schlechter Ernährung oder an psychischen Problemen. Ihre Existenzängste treiben sie in die Depression", meint der Arzt.

Seit der Machtübernahme der Taliban und dem Abzug der internationalen Truppen befindet sich Afghanistan in einer wirtschaftlichen Krise. Vor kurzem meldete der Internationale Währungsfonds, dass die afghanische Wirtschaft in diesem Jahr um dreißig Prozent schrumpfen könnte. Nachdem die Taliban nach Kabul zurückgekehrt waren, fror die US-Regierung die afghanischen Staatsreserven, rund neun Milliarden US-Dollar, ein. Zeitgleich wurden von zahlreichen Staaten auch die Entwicklungszahlungen für das Land eingestellt. Durch diese Sanktionen leidet in erster Linie nicht die neue Taliban-Regierung, sondern Millionen von Afghanen, denn bereits im Vorfeld war klar, dass der afghanische Staat - egal, von wem er regiert wird - ohne ausländische Hilfe nicht überlebensfähig ist.

Flucht in den Iranund nach Pakistan

Währenddessen sind Geldtransferdienste wie Western Union oder Moneygram für viele Menschen im Land zur Überlebensader geworden. "Meine Familie in Kabul würde ohne meine finanzielle Unterstützung nicht durchkommen. Ich bezahle die Miete meines Bruders", sagt Abdul Rahman Sadat, der seit rund zehn Jahren im deutschen Stuttgart lebt. Dass die afghanische Bevölkerung für das Versagen der Amerikaner und der internationalen Staatengemeinschaft "kollektiv bestraft" wird, kritisiert er. "Washington hat den Krieg verloren und die Taliban mittels der Verhandlungen in Katar selbst legitimiert. Warum müssen nun einfache Afghanen dafür büßen?", so Sadat.

Die akute Bargeldknappheit und der damit verbundene Anstieg der Armut führen nicht nur zu langen Schlangen vor den Banken, sondern auch zu einer massiven Fluchtwelle, von denen in erster Linie die Nachbarstaaten Afghanistans, allen voran Iran und Pakistan, in Mitleidenschaft gezogen werden. Besonders hart trifft der Wirtschaftskollaps die Kinder des Landes am Hindukusch. Laut den Vereinten Nationen sind bereits zehn Millionen Kinder - etwas weniger als ein Drittel der afghanischen Bevölkerung - von Hungersnot und Armut betroffen und auf Hilfe angewiesen.

Mehr als drei Millionen afghanische Kinder unter fünf Jahren werden Schätzungen zufolge bald unter akuter Unterernährung leiden. Aus einem Kabuler Waisenhaus hieß es etwa, dass dort aufgrund fehlender Gelder die Essensrationen für die Kinder zusammengestrichen werden müssen. Ähnliche oder zum Teil schlimmere Berichte hört man aus anderen Landesteilen. Viele Afghanen befürchten, dass Soforthilfen sich auf die Hauptstadt Kabul konzentrieren und andere Landesteile, etwa abgelegene ländliche Regionen, nicht erreichen werden. "Falls keine oder nur geringe Hilfen das Land erreichen, besteht die Gefahr, dass viele Kinder den Winter nicht überstehen", sagt auch Arzt Ahmad Zia.

Schwieriger Spagat für den Westen

Zuletzt reiste eine Taliban-Delegation nach Moskau, um dort mit Vertretern der russischen, chinesischen und pakistanischen Regierung über die humanitäre Lage im Land und mögliche Hilfsgelder zu sprechen. Viele Regierungen, allen voran jene westlicher Staaten, haben zwar ihre Hilfe signalisiert, betonten allerdings gleichzeitig, die Taliban-Regierung nicht anerkennen zu wollen. Dieser Spagat zwischen humanitärer Hilfe für die afghanische Bevölkerung und die Vermeidung einer Zusammenarbeit mit dem neuen Taliban-Regime dürfte schwierig ausfallen.

Graeme Smith, langjähriger Afghanistan-Experte und Berater der Organisation International Crisis Group (ICG), betonte jüngst in einem Interview, dass ein solcher Schritt in der Praxis nahezu unmöglich sei und man mit den neuen Machthabern in Kabul zusammenarbeiten müsse, um der humanitären Katastrophe vor Ort entgegenzuwirken. "Man darf keine Soforthilfe in Form von Nahrungsmitteln als politisches Druckmittel benutzen. Das ist keine gängige Praxis", so Smith. Wie viele andere Beobachter hob allerdings auch er hervor, dass die Regeln bei der Auszahlung von Entwicklungsgeldern anders seien und dass man diese nach dem Winter als Druckmittel gegen die Taliban benutzen könne, um sich etwa an Menschen- oder Frauenrechte zu halten.

Die Europäische Kommission hat bereits ein Hilfspaket im Wert von rund einer Milliarde Euro für die afghanische Bevölkerung und die Nachbarländer angekündigt. "Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um einen größeren humanitären und sozioökonomischen Zusammenbruch in Afghanistan zu verhindern. Wir müssen es schnell tun", sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. "Wir haben unsere Bedingungen für eine Zusammenarbeit mit den afghanischen Behörden klar formuliert, auch was die Achtung der Menschenrechte angeht. Bisher sprechen die Berichte für sich selbst. Aber das afghanische Volk sollte nicht den Preis für die Taten der Taliban zahlen. Deshalb ist das Unterstützungspaket für das afghanische Volk und die Nachbarländer gedacht, die ihm als Erstes Hilfe geleistet haben", erklärte von der Leyen.

Forderung nach uneingeschränkter Hilfe

"Es wäre wünschenswert, wenn diese Hilfe zu einhundert Prozent bei den Bedürftigen vor Ort landen würde. Wir fordern vor allem von der UNO uneingeschränkte Hilfe, um eine humanitäre Katastrophe in Afghanistan zu verhindern", sagt Fatma Murtaza, eine deutsch-afghanische Aktivistin. Gemeinsam mit anderen afghanischstämmigen Menschen demonstrierte sie vor dem Gebäude der Vereinten Nationen in Bonn, um auf die Lage in Afghanistan aufmerksam zu machen. Murtaza verlangt allerdings auch eine Regulierung der Hilfsgelder, um die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wanderten Milliarden von ausländischen Geldern meist in die Taschen korrupter Politiker in Kabul. "Wenig bis gar nichts kam am Ende bei den Menschen in Not an", so Murtaza.